Bundessozialgericht, Urteil vom 24.03.2015 (B 8 SO 5/14 R):

Mit Urteilen vom 23. Juli 2014 hat der 8. Senat des Bundessozialgerichts entschieden, dass erwerbsunfähige volljährige behinderte Menschen, die Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch ‑ Sozialhilfe ‑ (SGB XII) erhalten und bei ihren Eltern beziehungsweise einem Elternteil leben, grundsätzlich einen Anspruch auf Leistungen für den Lebensunterhalt nach der Regelbedarfsstufe 1 (100 %) besitzen. Diese Entscheidungen hat das Bundessozialgericht am Dienstag, dem 24. März 2015, in zwei Verfahren aufgrund mündlicher Verhandlung fortgeführt und seine Auffassung bekräftigt, dies ergebe sich bei verfassungskonformer Auslegung des § 27a Abs 3 SGB XII in Verbindung mit der Anlage zu § 28 SGB XII und der gesetzlichen Vermutung einer gemeinsamen, damit auch eigenen, nicht fremden Haushaltsführung (§ 39 Satz 1 SGB XII).

In beiden Verfahren wurde die Sache jedoch an das Landessozialgericht zurückverwiesen, weil ausreichende Feststellungen zur Höhe der Leistung fehlten. Betont wurde, dass Ermittlungen zur Widerlegung der gesetzlichen Vermutung einer gemeinsamen Haushaltsführung nur bei qualifiziertem Vortrag des Sozialhilfeträgers zum Fehlen der Fähigkeit des behinderten Menschen an einer gemeinsamen Haushaltsführung auch unter entsprechender Anleitung zulässig sind und Eigenständigkeit nicht mit Eigeninitiative gleichzusetzen ist. Bereits in den Urteilen vom 23. Juli 2014 ist ausgeführt worden, dass typisierend davon auszugehen ist, dass Eltern ihrer Verpflichtung zur Förderung des behinderten Menschen und Anleitung im Rahmen seiner Fähigkeiten nachkommen; insoweit handelt es sich nicht um eine widerlegbare Vermutung.

 

 

Az.:  B 8 SO 5/14 R                           S.S. ./.  Stadt Marl

Az.:  B 8 SO 9/14 R                           O.Y. ./. Stadt Bonn

 

 

 

Hinweise zur Rechtslage

  • 27a Abs 3 SGB XII iVm der Anlage zu § 28 SGB XII

(3) Zur Deckung der Regelbedarfe, die sich nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28 ergeben, sind monatliche Regelsätze zu gewähren. Der Regelsatz stellt einen monatlichen Pauschal­betrag zur Bestreitung des Regelbedarfs dar, über dessen Verwendung die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich entscheiden; dabei haben sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen.

Anlage zu § 28 SGB XII (zu § 28)

Regelbedarfsstufen nach § 28 in Euro

(Fassung vom 15.10.2013, gültig ab 01.01.2014)

 

gültig ab Regel-bedarfsstufe 1 Regel-
bedarfsstufe 2
Regel-
bedarfsstufe 3
Regel-
bedarfsstufe 4
Regel-
bedarfsstufe 5
Regel-bedarfsstufe 6
1. Januar 2011 364 328 291 287 251 215
1. Januar 2012 374 337 299 287 251 219
1. Januar 2013 382 345 306 289 255 224
1. Januar 2014 391 353 313 296 261 229
1. Januar 2015 399 360 320 302 267 234

 

Regelbedarfsstufe 1:

Für eine erwachsene leistungsberechtigte Person, die als alleinstehende oder alleinerziehende Per­son einen eigenen Haushalt führt; dies gilt auch dann, wenn in diesem Haushalt eine oder mehrere weitere erwachsene Personen leben, die der Regelbedarfsstufe 3 zuzuordnen sind.

Regelbedarfsstufe 2:

Für jeweils zwei erwachsene Leistungsberechtigte, die als Ehegatten, Lebenspartner oder in eheähn­licher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führen.

Regelbedarfsstufe 3:

Für eine erwachsene leistungsberechtigte Person, die weder einen eigenen Haushalt führt, noch als Ehegatte, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führt.

Regelbedarfsstufe 4:

Für eine leistungsberechtigte Jugendliche oder einen leistungsberechtigten Jugendlichen vom Beginn des 15. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.

Regelbedarfsstufe 5:

Für ein leistungsberechtigtes Kind vom Beginn des siebten bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres.

Regelbedarfsstufe 6:

Für ein leistungsberechtigtes Kind bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres.

(…)

Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Der Senat hat seine Rechtsprechung fortgeführt, dass bei verfassungskonformer Auslegung des § 27a Abs 3 SGB XII iVm der Anlage zu § 28 SGB XII, wenn erwerbsunfähige volljährige behin­derte Menschen mit ihren Eltern bzw einem Elternteil zusammenleben, aufgrund gesetzlicher Vermutung (§ 39 SGB XII) von einer gemeinsamen Haushaltsführung auszugehen ist und damit Leistungen für den Lebensunterhalt grundsätzlich nach der Regelbedarfsstufe 1 (100 %) statt der Regelbedarfsstufe 3 (80 %) zu gewähren sind. Eine Vorlage der Sache an das BVerfG bedurfte es nicht, weil Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang der einschlägigen Re­gelung und deren Sinn und Zweck keine eindeutige Auslegung zulassen. Eine Ersparnis von 20 % ist ohnedies statistisch nicht belegt.

Unabhängig davon, dass das LSG nicht über alle maßgeblichen Bescheide (Änderungsbescheid während des Gerichtsverfahrens gemäß § 96 SGG) befunden hat und ua im Hinblick hierauf die Wirksamkeit eines beim LSG geschlossenen Teilvergleichs (Beschränkung des Streitgegen­stands auf den Regelbedarf; gewollte Einigung über einzelne Anspruchsvoraussetzungselemente) noch der Prüfung bedarf, wird das LSG nur bei qualifiziertem Vortrag der Beklagten in die Ermittlungen darüber eintreten dürfen, ob die Vermutung, dass auch behinderte Menschen sich im Rahmen ihrer Fähigkeit am Haushalt beteiligen, widerlegt ist. Dieser Vortrag hat an den Fähigkeiten des Behinderten, nicht an der Bereitschaft der Eltern bzw des Elternteils oder des Behinderten anzusetzen. Insbesondere, wenn ‑ wie hier ‑ eine Werkstatt für behinderte Men­schen (WfbM) be­sucht wird, dürfte ein solcher Vortrag kaum denkbar sein. Die Formulierungen des LSG zur fehlenden Haushaltsführung der Klägerin sind in diesem Punkt nicht eindeutig; sie las­sen nicht erkennen, wie die Ausführungen über die fehlenden „eigenständigen“ Mitwir­kungs­handlungen bei der Haushaltsführung zu verstehen sind. Eigenständigkeit im Sinne der Senats­rechtsprechung verlangt jedenfalls keine Fähigkeit zur eigeninitiativen Beteiligung an der Haus­halts­führung, sondern ggf unter Anleitung, von der bei Eltern typisierend auszu­gehen ist.

SG Gelsenkirchen – S 8 SO 162/11 –
LSG Nordrhein-Westfalen – L 9 SO 469/13 WA –
Bundessozialgericht – B 8 SO 5/14 R –