Kammergericht Berlin, Urteil v. 22.12.2021 (25 U 33/21):
Leitsatz:
1. Übertragung der auf Auffahrunfälle auf Autobahnen bezogenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (Fortführung BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – VI ZR 177/10 und BGH, Urteil vom 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16) auf den mehrspurigen innerstädtischen Verkehr.
2. Kein Anscheinsbeweis auch bei feststehendem unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang eines Fahrspurwechsels mit dem anschließenden Auffahrunfall
Zurechnungszusammenhang eines Verstoßes gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 5 oder S. 7 StVO bei einem Auffahrunfall
„(…)
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist bei der Anwendung von Anscheinsbeweisen grundsätzlich Zurückhaltung geboten. Ein Anscheinsbeweis kann nur Anwendung finden, wenn das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür ist, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet wird, schuldhaft gehandelt hat (vgl. BGH NJW-RR 1986, 383; BGH NJW 1996, 1828). Eine solche Typizität liegt jedenfalls bei Unfällen auf Autobahnen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes regelmäßig dann nicht vor, wenn zwar feststeht, dass vor einem Auffahrunfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist und sowohl die Möglichkeit besteht, dass der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO den Fahrstreifenwechsel durchgeführt hat, als auch die Möglichkeit, dass der Auffahrunfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen ist. Infolgedessen kann regelmäßig keine der beiden Varianten alleine als der typische Geschehensablauf angesehen werden, der zur Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten eines der Beteiligten führt (vgl. BGH NJW 2012, 608).
Nach Auffassung des Senates gilt dies auch dann, wenn sich ein Unfall – wie hier – nicht auf einer Autobahn, sondern auf einer mehrspurigen Fahrbahn im Stadtverkehr ereignete (dies wohl bejahend : Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 14. August 2014 – 4 U 68/13 –, juris; LG Bonn, Urteil vom 27. Januar 2017 – 1 O 181/16 –, juris). Zwar argumentiert der Bundesgerichtshof im Rahmen seiner o.g. Rechtsprechung mit der bekannten Fahrweise auf Autobahnen, wo es nach der Lebenserfahrung nicht fernliegend sei, dass es zu gefährlichen Spurwechseln komme, bei denen die Geschwindigkeit des folgenden Fahrzeugs unterschätzt werde. Dieses Argument lässt sich aber auch auf mehrspurige Straßen im innerstädtischen Verkehr übertragen. Auch hier sind häufige Spurwechsel zu beobachten. Die gefahrenen Geschwindigkeiten sind zwar geringer als auf Autobahnen, die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer wird aufgrund des häufig dichteren Verkehrsaufkommens und komplexerer Verkehrssituationen aber in vergleichbarer Weise gefordert mit der damit einhergehenden vergleichbaren Gefahr von Fehleinschätzungen der Fahrweise anderer.
Darüber hinaus muss die vorbezeichnete Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes auch dann eingreifen, wenn über die Tatsache eines dem Unfall vorangegangenen Spurwechsels hinaus auch dessen unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit dem Unfall zu bejahen ist. Auch in diesem Falle besteht die gleichwertige Möglichkeit, dass das vorausfahrende Fahrzeug unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO den Fahrstreifen gewechselt hat, oder aber der Auffahrunfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen ist (vgl. BGH NJW 2012, 608). Letztlich kann ein Anscheinsbeweis nach Auffassung des Senates dann nicht zum Zuge kommen, wenn ein Verkehrsunfallgeschehen zugleich das Kerngeschehen mehrerer typischer Unfallursachen verkörpert, denn daraus muss die ernsthafte Möglichkeit hergeleitet werden, dass nicht (nur) ein sorgfaltswidriges Verhalten des einen Unfallbeteiligten den Unfall verursacht hat, mit der Folge, dass das Verschulden der unfallbeteiligten Fahrer positiv von dem zu beweisen ist, der sich darauf beruft. (…)“