Oberlandesgericht Hamm, Beschluß vom 30.09.2010 (III-3 RBs 336/09):

Vorliegend konnte der Betroffene das Verkehrszeichen 274.1, das den Beginn der Tempo 30-Zone anzeigte, wegen des zum Tatzeitpunkt vorhandenen Baum- und Buschbewuchses nicht erkennen. Dieser Umstand hatte zur Folge, daß das Verkehrszeichen für den Betroffenen keine Verbindlichkeit entfaltete.

Für die Wirksamkeit von Verkehrszeichen gilt der Sichtbarkeitsgrundsatz. Nach diesem Grundsatz sind Verkehrszeichen so aufzustellen oder anzubringen, daß sie ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhalten der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon mit einem raschen und beiläufigen Blick erfassen kann. Unter diesen Voraussetzungen äußern sie Rechtswirkung gegen jeden von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrnimmt oder nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.03.2008 – 3 C 18.07 -).

Der Verkehrsteilnehmer muß die Anordnung des Verkehrszeichens ohne weitere Überlegung eindeutig erfassen können (vgl. OVG Münster, NJW 2005, 1142, BGH NJW 1966, 1456). Dieses Erfordernis gilt nicht nur bei der erstmaligen Anbringung, sondern damit die Gebote und Verbote fortdauernd die ihnen zugedachte Wirkung haben, muß ihre ausreichende Erkennbarkeit gewahrt und erhalten werden. Werden Verkehrsregelungen aufgrund von Abnutzung oder Witterungsbedingungen derart unkenntlich, daß die Erkennbarkeit im o.g. Sinne nicht mehr vorhanden ist, so verlieren sie ihre Wirksamkeit (vgl. OVG Münster a.a.O.; BayObLG NJW 1984, 2110; König in Jagusch/ Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 39 Rdnr. 32 m.w.N.; Heß in Burmann/ Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 39 StVO Rdnr. 18 a m.w.N.). Dies gilt gleichermaßen, etwa wenn eine Markierung abgenutzt ist oder ein Schild völlig verschneit ist (vgl. BayObLG a.a.O.) oder wenn aufgrund von Zweigen bzw. Gebüsch in der Nähe des Verkehrszeichens eine Wahrnehmbarkeit im o.g. Sinne nicht mehr gegeben ist (vgl. OLG Stuttgart VRS 95, 441).

Eine solche Fallgestaltung war hier nach den Urteilsfeststellungen gegeben, so daß das Verkehrszeichen 274.1. mangels ausreichender Sichtbarkeit Rechtswirkungen für den Betroffenen nicht entfalten konnte. Unverbindliche Verkehrszeichen müssen aber durch den Verkehrsteilnehmer nicht beachtet werden mit der Folge, daß die Missachtung eines nicht sichtbaren Verkehrsschildes auch keine Ordnungswidrigkeit darstellt. Ob möglicherweise dann eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein kann, wenn der Verkehrsteilnehmer mit dem nicht mehr erkennbaren Verkehrszeichen bereits zuvor als Verkehrsteilnehmer in Berührung gekommen ist und er sich daran auch noch erinnert, kann hier dahingestellt bleiben. Denn nach den Urteilsfeststellungen ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, daß diese Voraussetzungen hier vorgelegen haben. Vielmehr wird in den Urteilsgründen ausgeführt, daß der Betroffene zur Tatzeit ortsunkundig war, womit ersichtlich zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß ihm die Anordnung der Tempo 30-Zone zuvor nicht bekannt gewesen war.

Mangels einer zur Tatzeit wirksamen Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h konnte als Anknüpfungspunkt für ein Fehlverhalten des Betroffenen daher nicht auf den Gesichtspunkt abgestellt werden, ob sich dem Betroffenen eine solche Regelung hätte aufdrängen müssen, da eine verbindliche Regelung dieses Inhalts tatsächlich nicht bestand.

Ergänzend merkt der Senat zur Klarstellung an, daß der Umstand, daß hinsichtlich Verkehrszeichens 274.1 der Sichtbarkeitsgrundsatz eingeschränkt ist, keinen Anlaß für eine andere Beurteilung gibt. Die Einschränkung bezieht sich nämlich darauf, daß das (selbstverständlich objektiv sichtbar aufgestellte) Zeichen 274.1 nur zu Beginn einer sich in der Regel über mehrere Straßenzüge erstreckenden Tempo 30-Zone anzubringen ist und für die gesamte Zone Wirksamkeit entfaltet, ohne daß es wie andere Streckenanordnungen an Einmündungen bzw. Kreuzungen zu wiederholen ist. Diese Einschränkung des Sichtbarkeitsgrundsatzes spielt aber für die Frage, welche Rechtswirkungen von einem nicht mehr erkennbaren Verkehrszeichen, das eine Zonenanordnung beinhaltet, ausgehen, keine Rolle.

Das Amtsgericht durfte dem Betroffenen daher nicht eine Geschwindigkeitsüberschreitung im Umfang von 40 km/h zur Last legen. Vielmehr konnte dem Betroffenen lediglich vorgeworfen werden, dass er gegen die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO verstoßen und diese um 20 km/h überschritten hat. Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen zur Höhe der von dem Betroffenen gefahrenen Geschwindigkeit sind rechtsfehlerfrei getroffen worden und entsprechen den Anforderungen, die nach der obergerichtlichen Rechtsprechung bei einer Geschwindigkeitsmessung mittels eines standardisierten Messverfahrens, wie es hier zur Anwendung gekommen ist, gestellt werden. Aufgrund der in den Urteilsgründen beschriebenen örtlichen Verhältnisse konnte für den Betroffenen auch kein Zweifel daran bestehen, daß er sich bei seiner Fahrt zur Tatzeit innerhalb der geschlossenen Ortschaft von M befand. Von einem fahrlässigen Fehlverhalten des Betroffenen in Bezug auf die Überschreitung der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit ist daher auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen auszugehen.