Der Bundesgerichtshof befand in seinem Urteil vom 20.09.2011 (VI ZR 282/10), daß das Befahren der linken Fahrbahn durch den am fließenden Verkehr teilnehmenden Fahrzeugführer nicht die Verpflichtung des aus einem Grundstück auf die Straße Einfahrenden beseitige, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen und diesen nicht zu behindern.
In dem Verfahren verlangte die Klägerin von dem beklagten Land Ersatz von Schäden an ihrem Pkw.
Die Klägerin fuhr am 20. Mai 2008 gegen 11.25 Uhr mit ihrem Pkw auf der F.-Straße in M. Der Beklagte zu 1 bog mit einem VW-Bus, der bei dem Beklagten zu 2 (künftig: Beklagter) versichert war, aus einem Behördengelände kommend nach rechts in die F.-Straße ein. In Höhe der aus der Sicht der Klägerin links gelegenen Ausfahrt kam es zu einem Zusammenstoß zwischen den beiden Fahrzeugen. Der VW-Bus berührte den Pkw der Klägerin im Bereich des linken vorderen Kotflügels. Es entstand ein Sachschaden an dem Pkw in Höhe von 6.902,02 . Hiervon zahlte das beklagte Land 4.537,13 unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 2/3 zu 1/3 zugunsten der Klägerin.
Das Landgericht hatte eine Mithaftungsquote der Klägerin von 25 % angenommen und weitere 642,39 nebst Zinsen zugesprochen. Im übrigen hatte es die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hatte das Oberlandesgericht die volle Haftung des beklagten Landes bejaht und der Klage mit Ausnahme der Kosten für die vorgerichtliche Tätigkeit des Prozessbevollmächtigten stattgegeben. Es hatte die Revision zugelassen, weil in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte unterschiedlich beurteilt werde, ob ein Verstoß eines vorfahrt- oder vorrangberechtigten Fahrers gegen das Rechtsfahrgebot beim Zusammenstoß mit einem die Vorfahrt oder den Vorrang mißachtenden Fahrzeug wegen Erhöhung der Betriebsgefahr als Mitverursachungsanteil berücksichtigt werden könne. Mit der Revision erstrebte das beklagte Land die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils und unterlag.
Der Bundesgerichtshof urteilte, daß das Oberlandesgericht Naumburg zutreffend davon ausgegangen sei, daß der Beklagte zu 1, für dessen Haftpflicht das beklagte Land einzustehen habe, den Verkehrsunfall und den daraus entstandenen Schaden der Klägerin schuldhaft dadurch verursacht habe, daß er unter Verletzung der gemäß § 10 Satz 1 StVO geforderten Sorgfalt von dem Behördenparkplatz kommend in die F.-Straße nach rechts eingebogen sei, ohne den entgegenkommenden Pkw der Klägerin durchfahren zu lassen, die ihr Vorrecht nicht deshalb verloren hätte, weil sie über der Fahrbahnmitte gefahren sei (vgl. Senat, Urteil vom 13. November 1990 – VI ZR 15/90, VersR 1991, 352; BGH, Urteil vom 19. September 1974 – III ZR 73/72, VersR 1975, 37, 38 f.).
§ 10 Satz 1 StVO lege dem aus einem Grundstück auf die Straße einfahrenden Fahrzeugführer gesteigerte Pflichten auf. Die Pflichten würden nicht dadurch gemindert, daß der Vorfahrtsberechtigte unter Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot die linke Straßenseite benutzten. Das Vorfahrtsrecht der auf der Straße fahrenden Fahrzeuge gegenüber einem auf eine Straße Einfahrenden gelte grundsätzlich für die gesamte Fahrbahn. Der aus einem Grundstück kommende Fahrzeugführer habe sich grundsätzlich darauf einzustellen, daß der ihm gegenüber Vorfahrtsberechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch mache (vgl. Senatsurteile vom 13. November 1990 – VI ZR 15/90; vom 19. Mai 1981 – VI ZR 8/80; vom 11. Januar 1977 – VI ZR 268/74; BGH, Urteil vom 19. September 1974 – III ZR 73/72). Selbst das Befahren der linken Fahrbahn beseitige nicht die Verpflichtung des Einfahrenden, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen und diesen nicht zu behindern.
Die Verletzung des Vorfahrtsrechts durch den in die Straße Einfahrenden indiziere sein Verschulden (vgl. Senatsurteil vom 13. November 1990 – VI ZR 15/90 und BGH, Urteil vom 19. September 1974 – III ZR 73/72). Wahre der Einfahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs nicht und komme es deshalb zu einem Unfall, habe er in der Regel, wenn keine Besonderheiten vorliegen würden, in vollem Umfang oder doch zum größten Teil für die Unfallfolgen zu haften (Senatsurteil vom 13. November 1990 – VI ZR 15/90. Demgegenüber dürfe der sich im fließenden Verkehr bewegende Vorfahrtsberechtigte, sofern nicht Anzeichen für eine bestehende Vorfahrtsverletzung sprächen, darauf vertrauen, daß der Einbiegende sein Vorrecht beachten werde (vgl. Senatsurteil vom 25. März 2003 – VI ZR 161/02; BGH, Urteil vom 19. September 1974 – III ZR 73/72).
Nach diesem im Straßenverkehr allgemein geltenden Vertrauensgrundsatz habe die Klägerin sich grundsätzlich darauf verlassen können, daß der Fahrer des VW-Busses ihr Vorfahrtsrecht beachten und sie vorbeilassen würde, ehe er in die F.-Straße einbiegen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 1954 – VGS 1/54, BGHZ 14, 232, 235 f.; Senatsurteil vom 4. Oktober 1966 – VI ZR 23/65; vom 20. Dezember 1966 – VI ZR 3/65). Soweit der Klägerin der Vertrauensgrundsatz zur Seite gestanden habe, brauchte sie nicht vorherzusehen, daß ihre Fahrweise zu einem Unfall führen würde. Sie habe mithin auch nicht fahrlässig gehandelt.
Das Recht sich auf den Vertrauensgrundsatz zu berufen, habe die Klägerin nicht deshalb eingebüßt, weil sie pflichtwidrig zu weit links gefahren seit. Das Rechtsfahrgebot, gegen das die Klägerin nach den insoweit nicht beanstandeten Feststellungen des Berufungsgerichts verstoßen habe, solle sicherstellen, daß Fahrzeuge sich gefahrlos begegnen und überholen könnten. Es diene also dem Schutz der Verkehrsteilnehmer, die sich in Längsrichtung auf derselben Straße bewegen würden. Hingegen sollten nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs solche Verkehrsteilnehmer nicht geschützt werden, die diese Straße überqueren oder – wie der Beklagte zu 1 – in sie einbiegen wollten (vgl. Senat, Urteil vom 4. Februar 1953 – VI ZR 70/52, BGHZ 9, 6, 11 f.; vom 15. November 1966 – VI ZR 57/65, VersR 1967, 157; BGH, Urteil vom 19. September 1974 – III ZR 73/72 aaO). Die Klägerin habe mithin weiterhin darauf vertrauen dürfen, der Beklagte zu 1 werde ihr Vorfahrtsrecht beachten, obwohl sie gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen habe.
Der Vertrauensgrundsatz gelte zugunsten des Vorfahrtsberechtigten allerdings nicht mehr, sobald dieser aus besonderen Umständen erkenne oder bei gebotener Sorgfalt erkennen könne, daß ihm der Wartepflichtige die Vorfahrt nicht einräumen werde (vgl. BGH, Urteil vom 19. September 1974 – III ZR 73/72). Dabei gelte, daß der Vorfahrtsberechtigte mit der Mißachtung seines Vorrechts solange nicht zu rechnen brauche, wie der Wartepflichtige noch die Möglichkeit habe, sein Fahrzeug durch eine gewöhnliche Bremsung rechtzeitig anzuhalten, so daß der Vorfahrtsberechtigte ungefährdet vor ihm vorüberfahren könne. Erst wenn diese Möglichkeit nicht mehr bestehe, werde der Unfall für den Vorfahrtsberechtigten vorhersehbar und stelle sich für ihn die Frage der Vermeidbarkeit.
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