In dem Verfahren vor dem Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 1.7.2011, 13 S 61/11) ging es um restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 09.08.2009 ereignet hatte.

Die Erstbeklagte befuhr mit ihrem Fahrzeug, das bei der Zweitbeklagten haftpflichtversichert war, eine innerstädtische Straße und wollte nach links abbiegen. Sie hatte den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt und hielt das Fahrzeug vor dem Abbiegen an.

Zur selben Zeit befuhr der Zeuge A mit einem Notarzteinsatzfahrzeug des Klägers, an dem Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet waren, die Straße in gleicher Fahrtrichtung und näherte sich von hinten dem stehenden Fahrzeug der Erstbeklagten. Im Notarzteinsatzfahrzeug befand sich als Notarzt der Zeuge B. In der Folge bog die Erstbeklagte nach links ab und stieß dabei mit dem sie überholenden Einsatzfahrzeug zusammen.

Die Zweitbeklagte hatte den Schaden des Klägers auf der Grundlage einer Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Beklagten reguliert. Mit seiner Klage verfolgte der Kläger den nicht regulierten Schaden.

Der Kläger vertrat die Auffassung, daß die Erstbeklagte § 38 Abs. 1 StVO verletzt habe. Darüber hinaus habe sie gegen die doppelte Rückschaupflicht und die Pflicht, sich möglichst weit links einzuordnen, verstoßen. Demgegenüber habe der Zeuge A davon ausgehen dürfen, daß die Erstbeklagte ihm freie Bahn verschaffen würde. Das rechtfertige die Alleinhaftung der Beklagten.

Die Beklagten wandten ein, es sei nicht vorgetragen, daß tatsächlich höchste Eile geboten gewesen sei, um Sonderrechte in Anspruch zu nehmen. Der Zeuge A hätte auch, da die Erstbeklagte den linken Blinker gesetzt und sich zur Fahrbahnmitte eingeordnet habe, damit rechnen müssen, nicht wahrgenommen worden zu sein. Es sei deshalb von einer unklaren Verkehrslage iSd. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO auszugehen. Daraus ergebe sich eine Mithaftung des Klägers von jedenfalls 1/3.

Das Amtsgericht vernahm die Zeugen zum Unfallgeschehen und hörte die Erstbeklagte informatorisch an. Danach gab es der Klage in der Hauptsache statt. Die Erstbeklagte habe gegen §§ 38 Abs. 1, 9 Abs. 4 StVO verstoßen. Nach der Beweisaufnahme stehe fest, daß das klägerische Fahrzeug zum Kreis der Sonderrechtsträger nach § 35 Abs. 1 StVO gehört habe. Den Insassen des Rettungsfahrzeuges sei nämlich von der Rettungsleitstelle Saarland mitgeteilt worden, daß ein medizinischer Notfall vorliege mit Verdacht auf Herzinfarkt, weshalb der Fahrer des Rettungsfahrzeuges zu Recht beide Sondersignale eingesetzt habe. Die Erstbeklagte habe darüber hinaus ihrer Verpflichtung zur zweiten Rückschau nicht genügt, da sie – wie sie selbst eingeräumt habe – ihre Aufmerksamkeit auf den Gegenverkehr gerichtet und das Sonderrechtsfahrzeug weder gesehen noch gehört habe. Dem gegenüber habe sich der Fahrer des Rettungsfahrzeuges darauf verlassen dürfen, daß die Erstbeklagte, die angehalten habe, ihn wahrgenommen hatte. Das Maß der Unfallverursachung sei insofern auf der Beklagtenseite so groß, daß die von dem Kläger zu verantwortende Mitverursachung nicht ins Gewicht falle.

Mit ihrer Berufung verfolgten die Beklagten weiter die Abweisung der Klage und unterlagen.

Das Landgericht Saarbrücken urteilte, daß das Amtsgericht zutreffend zunächst davon ausgegangen sei, daß sowohl die Beklagten als auch der Kläger grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens einzustehen hätten.

Ohne Rechtsfehler habe das Amtsgericht im Rahmen der nach § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile angenommen, daß der Unfall durch ein Verschulden der Erstbeklagten verursacht worden ist.

Soweit das Amtsgericht einen Verstoß der Erstbeklagten gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO bejaht habe, weil sie als Linksabbiegerin ihrer Pflicht zur doppelten Rückschau nicht nachgekommen sei, begegne dies keinen Bedenken und werde auch von der Berufung nicht in Zweifel gezogen.

Das Amtsgericht sei auch im Ergebnis zu Recht von einem Verstoß gegen § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO ausgegangen. Nach dieser Regelung sei die Erstbeklagte gegenüber dem Notarzteinsatzfahrzeug der Beklagten, das mit Blaulicht und Einsatzhorn fuhr, verpflichtet gewesen, sofort freie Bahn zu schaffen. Dieses Gebot habe unabhängig davon gegolten, ob die Voraussetzungen für die Verwendung von Blaulicht und Einsatzhorn tatsächlich gegeben gewesen seien. Die Erstbeklagte hätte danach beiseite oder rechts heran oder scharf rechts ganz langsam fahren und ggf. anhalten müssen, bis sie hätte beurteilen können, ob sie das Einsatzfahrzeug behindern würde.

Das habe sie nicht getan. Sie sei vielmehr links abgebogen, ohne die nach der Verkehrslage gebotene Reaktion zu zeigen und habe so den Zusammenstoß mit dem klägerischen Fahrzeug verursacht. Bei Einhaltung der im Straßenverkehr gebotenen Sorgfalt hätte die Klägerin die Signale des Einsatzfahrzeuges auch rechtzeitig wahrnehmen müssen. Denn ein am normalen Straßenverkehr teilnehmender Kraftfahrer müsse grundsätzlich Vorsorge treffen, daß er die von einem herannahenden Einsatzfahrzeug abgegebenen besonderen Warnsignale rechtzeitig wahrnehmen könne. Ein derart wahrnehmungsbereiter und aufmerksamer Verkehrsteilnehmer könne insbesondere das eingeschaltete Einsatzhorn mit seinem durchdringenden, besonders auffälligen Ton in der Regel schon von weitem hören.

Den Zeugen A als Fahrer des Rettungsdienstfahrzeuges trefffe kein Mitverschulden an dem Unfall.

Ein Verstoß gegen ein Überholverbot nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO liege nicht vor. Diese Vorschrift bestimme ein Überholverbot bei unklarer Verkehrslage. Unklar sei die Verkehrslage, wenn nach allen objektiven Umständen – nicht nach dem Gefühl des Überholwilligen – mit einem gefahrlosen Überholen nicht gerechnet werden dürfe, etwa weil sich nicht verläßlich beurteilen lasse, was der Vorausfahrende sogleich tun werde. Das sei nicht schon dann der Fall, wenn der Vorausfahrende – auch bei einer sich nähernden Einmündung von links – seine Geschwindigkeit stark herabsetze. Unklar werde die Verkehrslage erst, sobald weitere besondere Umstände hinzutreten würden, wenn etwa der Vorausfahrende neben dem Einordnen zur Fahrbahnmitte auch den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätige. Davon sei hier auszugehen, denn die Erstbeklagte habe unstreitig den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt gehabt und sich – wie auch der Fahrer des Rettungsdienstfahrzeuges bestätigt habe – zur Fahrbahnmitte eingeordnet. Damit liege eine unklare Verkehrslage vor, die unter normalen Umständen zu einem Überholverbot geführt hätte.

Das klägerische Fahrzeug habe jedoch – anders als die Berufung meint – zu den nach § 35 Abs. 5 a StVO privilegierten Fahrzeugen gehört und sei insoweit von der Einhaltung des Überholverbots befreit gewesen.

Nach § 35 Abs. 5 a StVO sind Fahrzeuge des Rettungsdienstes – auch Notarzteinsatzfahrzeuge privater Einrichtungen wie hier – von den Vorschriften der StVO befreit, wenn höchste Eile geboten sei, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden. Diese Voraussetzungen seien im Streitfall nachgewiesen. Für die Beurteilung, ob es sich um eine Einsatzfahrt iSd. § 35 Abs. 5 a StVO handele, komme es nicht auf die spätere objektive Betrachtung nach Beendigung der Einsatzfahrt, die der Einsatzfahrer nicht habe anstellen können, an. Vielmehr sei allein entscheidend, ob der Fahrer sich nach der ihm bekannten Lage aufgrund des Inhalts des Einsatzbefehls und der beschriebenen Krankheitssymptome für berechtigt halten durfte, die Sonderrechte aus § 35 Abs. 5 a StVO in Anspruch zu nehmen. Das Amtsgericht habe – insoweit unwidersprochen – festgestellt, daß die Rettungsleitstelle Saarland die Einsatzanweisung mit dem Hinweis „medizinischer Notfall“ gegeben hatte. Aufgrund dieses Einsatzbefehls sei bei einer sachgemäßen Vorwegbeurteilung höchste Eile zur Rettung von Menschenleben geboten gewesen. Denn weder dem Fahrer des Rettungsdienstfahrzeuges noch dem Rettungsarzt seien weitere Informationen zugänglich gewesen, die sie in die Lage versetzt hätten, eine verläßliche Einschätzung im Hinblick auf den Einsatzbefehl und die Notwendigkeit der Inanspruchnahme von Sonderrechten abzugeben. In einer solchen Situation dürfe ein Fahrer eines Rettungsdienstfahrzeuges aber insbesondere mit Blick auf die möglichen Folgen eines zu späten Eintreffens am Einsatzort davon ausgehen, daß zur Abwendung der Gefahr für Menschenleben Sonderrechte in Anspruch genommen werden dürften.

Allerdings weise die Berufung zu Recht darauf hin, daß der Fahrer eines Einsatzfahrzeuges mit eingeschaltetem Blaulicht und Martinshorn nur dann darauf vertrauen dürfe, daß die anderen Verkehrsteilnehmer der Verpflichtung des § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO nachkommen würden, sofort freie Bahn zu schaffen, wenn er nach den Umständen annehmen dürfe, daß ihn alle anderen Verkehrsteilnehmer wahrgenommen und sich auf das Einsatzfahrzeug eingestellt hätten (vgl. BGHZ 63, 327, 331; KG, VRS 100, 329). Dafür müsse er ihnen eine kurz zu bemessende, aber doch hinreichende Zeit einräumen (vgl. KG aaO). Das folge aus § 35 Abs. 1 StVO, wonach die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden dürften (§ 35 Abs. 8 StVO). Die dem Sonderrechtsfahrer obliegende Sorgfaltspflicht sei danach umso größer, je mehr seine gegen die StVO verstoßende Fahrweise, die zu der zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe nicht außer Verhältnis stehen dürfe, die Unfallgefahr erhöhe.

Diesem Sorgfaltsmaßstab sei der Zeuge A als Fahrer des Notarzteinsatzfahrzeuges gerecht geworden. Die Erstbeklagte habe sich unmittelbar vor dem Einsatzfahrzeug befunden und habe – wie auch die Berufung einräume – bereits aus einer Entfernung von mehr als 25 m unbeschränkte Sicht auf das sich von hinten nähernde Einsatzfahrzeug gehabt. Grundsätzlich dürfe ein Fahrer eines Einsatzwagens annehmen, daß Fahrzeuge in der Nähe (50 m) Blaulicht und Einsatzhorn wahrnehmen würde. Aufgrund des Abstands zum Einsatzfahrzeug habe für die Erstbeklagte auch hinreichende Zeit bestanden, sich auf das Einsatzfahrzeug einzustellen. Der Zeuge A habe nach diesen Umständen annehmen dürfen, daß die Erstbeklagte ihn wahrgenommen habe und er mit freier Bahn rechnen dürfen. Dieses Vertrauen sei entgegen der Auffassung der Berufung auch nicht dadurch eingeschränkt gewesen, daß die Erstbeklagte an der Fahrbahnmittelinie stehen geblieben und nicht rechts herangefahren sei. Das Vertrauen des Fahrers eines Einsatzfahrzeuges, daß die übrigen Verkehrsteilnehmer freie Bahn schaffen würden, sei nicht erst dann geschützt, wenn die Verkehrsteilnehmer erkennbar dem Gebot des § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO Folge leisten würden. Es knüpfe vielmehr an die berechtigte Erwartung des Fahrers eines Einsatzfahrzeuges an, daß die Verkehrsteilnehmer, die die Signale des Einsatzfahrzeuges wahrgenommen hätten und sich auf das Fahrzeug hätten einstellen können, dem Gebot entsprechend handeln würden. Es würde dem Sinn der Regelung des § 35 Abs. 5 a StVO zuwiderlaufen, wenn man die Inanspruchnahme von Sonderrechten davon abhängig machen wollte, daß die übrigen Verkehrsteilnehmer sich entsprechend dem Gebot des § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO verhalten würden. Der Fahrer eines Einsatzfahrzeuges müsse dann von der Inanspruchnahme der Sonderrechte absehen, wenn gegen das Gebot des § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO verstoßen würde. Damit würde die Möglichkeit, in Notfallsituationen von Sonderrechten Gebrauch zu machen, in unzulässiger Weise eingeschränkt, wenn nicht sogar aufgehoben. Der Gesetzgeber habe aber gerade durch § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO vermeiden wollen, daß die höchsteilige Fahrt eines Wegerechtsfahrzeugs aufgehalten oder verzögert werde (vgl. BGHZ 63, 327, 332). Der Zeuge A habe deshalb nicht abzuwarten brauchen, bis die Erstbeklagte nach rechts gefahren sei, sondern habe darauf vertrauen dürfen, daß sie an der Fahrbahnmittelinie stehen bleiben und nicht auf die Gegenfahrbahn einfahren würde. Ob etwas anderes gelten könne, wenn der Fahrer des Einsatzfahrzeuges mit einem unmittelbar bevorstehenden Verkehrsverstoß der anderen Verkehrsteilnehmer rechnen müsse, bedürfe hier keiner Entscheidung. Denn die Erstbeklagte habe zum Abbiegen erst angesetzt, als der Einsatzwagen bereits an das Beklagtenfahrzeug herangefahren gewesen sei, so daß der Zeuge A auch nicht mehr unfallvermeidend hätte reagieren können.

Die Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG führe zur Alleinhaftung der Beklagten. Auf Seiten der Erstbeklagten wirke sich der doppelte Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO und § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO aus. Auf Seiten des Klägers könne lediglich die durch das innerörtliche Überholmanöver erhöhte Betriebsgefahr Berücksichtigung finden. Diese trete allerdings gegenüber dem Verschulden der Erstbeklagten zurück. Denn das Verschulden eines Linksabbiegers wiege gegenüber einem Fahrzeug, das in zulässiger Weise Sonderrechte nach § 35 Abs. 5 a StVO in Anspruch nehme, so schwer, daß eine Mithaftung grundsätzlich nur in Betracht komme, wenn den Sonderrechtsfahrer ein mitwirkendes Verschulden treffe.