Bundesgerichtshof VI ZR 177/10 Urteil vom 13.12.2011:

Mit dem Bundesgerichtshof ist bei Auffahrunfällen auf der Autobahn ein Anscheinsbeweis regelmäßig nicht anwendbar, wenn zwar feststeht, daß vor dem Unfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im übrigen nicht aufklärbar ist.

Der Bundesgerichtshof führte aus, daß die Anwendung des Anscheinsbeweises auch bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraussetze, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluß aufdränge, daß ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt habe; es müsse sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch sei. Demnach könne bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen würden, grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden sprechen (vgl. Senatsurteil vom 30. November 2010 – VI ZR 15/10, aaO mwN). Es reiche allerdings allein das „Kerngeschehen“ – hier: Auffahrunfall – als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt seien, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen würden. Denn es müsse das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, daß derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des Unfallereignisses der Anscheinsbeweis Anwendung finden solle, schuldhaft gehandelt habe. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch sei, könne nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben würden (vgl. Senatsurteile vom 19. November 1985 – VI ZR 176/84, aaO; vom 19. März 1996 – VI ZR 380/94, aaO).

Infolgedessen sei es bei Auffahrunfällen wie dem vorliegenden (Auffahren auf der linken Spur einer Autobahn in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel des Vorausfahrenden) umstritten, ob es sich um eine typische Auffahrsituation mit der Folge eines Anscheinsbeweises zu Lasten des Auffahrenden handele oder nicht.

Bei der Anwendung des Anscheinsbeweises sei nach Auffassung des erkennenden Senats grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil er es erlaube, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne daß im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt sei. Deswegen könne er nach den oben unter 1. dargelegten Grundsätzen nur Anwendung finden, wenn das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sei, daß derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet werde, schuldhaft gehandelt habe (vgl. Senatsurteile vom 19. November 1985 – VI ZR 176/84, aaO; vom 19. März 1996 – VI ZR 380/94, aaO). Eine solche Typizität liege bei dem hier zu beurteilenden Geschehensablauf regelmäßig nicht vor, wenn zwar feststehe, daß vor dem Auffahrunfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden habe, der Sachverhalt aber im übrigen nicht aufklärbar sei und – wie hier – nach den Feststellungen des Sachverständigen sowohl die Möglichkeit bestehe, daß der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO den Fahrstreifenwechsel durchgeführt habe, als auch die Möglichkeit, daß der Auffahrunfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen sei. Beide Varianten kämen wegen der bekannten Fahrweise auf den Autobahnen als mögliche Geschehensabläufe in Betracht, zumal es nach der Lebenserfahrung nicht fernliegend sei, daß es auf Autobahnen zu gefährlichen Spurwechseln komme, bei denen die Geschwindigkeit des folgenden Fahrzeugs unterschätzt werde. Infolgedessen könne regelmäßig keine der beiden Varianten alleine als der typische Geschehensablauf angesehen werden, der zur Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten eines der Beteiligten führe.