Der Bundesgerichtshof urteilte in seiner Entscheidung vom 13.12.2011 (VI ZR 177/10), daß bei Auffahrunfällen auf der Autobahn ein Anscheinsbeweis regelmäßig nicht anwendbar sei, wenn zwar feststehe, daß vor dem Unfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden habe, der Sachverhalt aber im übrigen nicht aufklärbar sei.

In dem zugrundeliegenden Verfahren stritten die Parteien um den Ersatz des dem Kläger entstandenen Schadens aus einem Auffahrunfall auf der linken Spur einer Autobahn. Auf die Klage des Klägers hatten im folgenden die Beklagten (der Halter des Beklagtenfahrzeug und seine Haftpflichtversicherung) widerklagend auch den Kläger, die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs und die Haftpflichtversicherung des Klägers in Anspruch genommen (sog. Widerklage bezogen auf den Kläger und sog. Drittwiderklage bzgl. der Fahrerin und der Haftpflichtversicherung des klägerischen Pkw).

Nun also zum Sachverhalt:

Der Kläger war Eigentümer eines PKW Daimler-Benz, der zum Unfallzeitpunkt von der Drittwiderbeklagten zu 2 gefahren wurde und bei der Drittwiderbeklagten zu 3 haftpflichtversichert war.

Der Beklagte zu 1 war zum Unfallzeitpunkt Halter und Fahrer eines PKW Porsche 911 Carrera Cabrio, der bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversichert war.

Am 25. Mai 2007 fuhr der PKW Porsche auf der BAB 6 auf der linken Spur auf den PKW Daimler-Benz auf, der einen LKW überholen wollte. Der Kläger und die Drittwiderbeklagten trugen vor, daß sich der PKW Porsche mit überhöhter Geschwindigkeit genähert habe und der mit einer Geschwindigkeit von 100 bis 110 km/h fahrende PKW Daimler-Benz sich bereits 100 bis 150 m vor Erreichen des LKWs vollständig auf der linken Spur eingeordnet habe. Die Kollision habe stattgefunden, als sich der PKW Daimler-Benz auf gleicher Höhe mit dem LKW befunden habe.

Nach der Darstellung der Beklagten sei der PKW Daimler-Benz, als der LKW noch mindestens 500 m von diesem entfernt gewesen sei, kurz bevor der PKW Porsche den PKW Daimler-Benz habe passieren können, völlig unerwartet und ohne den Fahrtrichtungsanzeiger zu setzen auf die linke Spur gezogen.

Das Landgericht war von einem Haftungsanteil der beiden Unfallbeteiligten von jeweils 50 % ausgegangen und hatte den jeweils geltend gemachten Schaden insoweit in einer in den Rechtsmittelverfahren nicht mehr angegriffenen Schadenshöhe für erstattbar gehalten. Auf die nur vom Kläger eingelegte Berufung hatte das Oberlandesgericht dem Kläger Schadensersatz zu 100 % zugesprochen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision beantragten die Beklagten, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Bundesgerichtshof befand, daß das Berufungsurteil einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht standhalte.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts seien die Grundsätze des Anscheinsbeweises im Streitfall nicht zu Lasten der Beklagten anwendbar.

Die Anwendung des Anscheinsbeweises setze auch bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluß aufdränge, daß ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt habe; es müsse sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch sei (vgl. Senatsurteile vom 24. März 1959 – VI ZR 82/58; vom 19. November 1985 – VI ZR 176/84; vom 19. März 1996 – VI ZR 380/94; vom 16. Januar 2007 – VI ZR 248/05; vom 30. November 2010 – VI ZR 15/10).

Demnach könnten bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden sprechen (vgl. Senatsurteil vom 30. November 2010 – VI ZR 15/10, aaO mwN). Es reiche allerdings allein das „Kerngeschehen“ – hier: Auffahrunfall – als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt seien, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprächen. Denn es müsse das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, daß derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des Unfallereignisses der Anscheinsbeweis Anwendung finden solle, schuldhaft gehandelt habe.

Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch sei, könne nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergäben (vgl. Senatsurteile vom 19. November 1985 – VI ZR 176/84; vom 19. März 1996 – VI ZR 380/94).

Infolgedessen sei es bei Auffahrunfällen wie dem vorliegenden (Auffahren auf der linken Spur einer Autobahn in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel des Vorausfahrenden) umstritten, ob es sich um eine typische Auffahrsituation mit der Folge eines Anscheinsbeweises zu Lasten des Auffahrenden handele oder nicht.

Das Berufungsgericht und ein Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung verträten die Auffassung, daß nur die seitens des Auffahrenden bewiesene ernsthafte Möglichkeit, daß das vorausfahrende Fahrzeug in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Auffahrunfall in die Fahrbahn des Auffahrenden gewechselt sei, den grundsätzlich gegebenen Anscheinsbeweis erschüttern könne. Zeige das Unfallgeschehen das typische Gepräge eines Auffahrunfalls, so könne sich der Unfallgegner nicht mit der bloßen Behauptung der lediglich theoretischen Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs entlasten mit der Folge, daß es Sache des Vorausfahrenden sei, den theoretisch in Betracht kommenden Unfallverlauf im Sinne einer beweisrechtlichen „Vorleistung“ auszuschließen. Vielmehr müßten sich aus den unstreitigen oder bewiesenen Umständen zumindest konkrete Anhaltspunkte und Indizien für den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem behaupteten Fahrspurwechsel und dem Auffahrunfall ergeben, um den gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern (vgl. OLG Köln).

Auch nach der im Schrifttum überwiegend vertretenen Auffassung greife der Anscheinsbeweis bei Auffahrunfällen nur dann nicht zu Lasten des Auffahrenden ein, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen feststehe oder unstreitig sei, daß der Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden erst wenige Augenblicke vor dem Auffahrunfall erfolgt sei.

Ein anderer Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung verneine bei Auffahrunfällen auf der Autobahn bereits einen Anscheinsbeweis für das Verschulden des Auffahrenden und nehme – in der Regel – eine hälftige Schadensteilung an, wenn vor dem Auffahren ein Fahrspurwechsel stattgefunden habe, aber streitig und nicht aufklärbar sei, ob die Fahrspur unmittelbar vor dem Anstoß gewechselt worden sei und sich dies unfallursächlich ausgewirkt hae. Dies werde im wesentlichen damit begründet, daß der Zusammenstoß mit einem vorausfahrenden Fahrzeug nur dann das typische Gepräge eines Auffahrunfalls trage, der nach der Lebenserfahrung den Schluß auf zu schnelles Fahren, mangelnde Aufmerksamkeit und/oder einen unzureichenden Sicherheitsabstand des Hintermannes zulasse, wenn feststehe, daß beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander hergefahren seien, daß sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können und es dem Auffahrenden möglich gewesen sei, einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen bzw. einzuhalten

Bei der Anwendung des Anscheinsbeweises ist nach der Auffassung Bundesgerichtshof grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil er es erlaube, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne daß im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt sei. Deswegen könne er nach den oben dargelegten Grundsätzen nur Anwendung finden, wenn das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sei, daß derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet werde, schuldhaft gehandelt habe (vgl. Senatsurteile vom 19. November 1985 – VI ZR 176/84; vom 19. März 1996 – VI ZR 380/94).

Eine solche Typizität liege bei dem hier zu beurteilenden Geschehensablauf regelmäßig nicht vor, wenn zwar feststehe, daß vor dem Auffahrunfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden habe, der Sachverhalt aber im übrigen nicht aufklärbar sei und – wie hier – nach den Feststellungen des Sachverständigen sowohl die Möglichkeit bestehe, daß der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO den Fahrstreifenwechsel durchgeführt habe, als auch die Möglichkeit, daß der Auffahrunfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen sei. Beide Varianten kämen wegen der bekannten Fahrweise auf den Autobahnen als mögliche Geschehensabläufe in Betracht, zumal es nach der Lebenserfahrung nicht fernliegend sei, daß es auf Autobahnen zu gefährlichen Spurwechseln komme, bei denen die Geschwindigkeit des folgenden Fahrzeugs unterschätzt werde.

Infolgedessen könne regelmäßig keine der beiden Varianten alleine als der typische Geschehensablauf angesehen werden, der zur Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten eines der Beteiligten führe.

Im Streitfall lägen auch keine besonderen Umstände vor, die die Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten des Auffahrenden rechtfertigen würden. Der Sachverständige habe die verschiedenen Möglichkeiten berücksichtigt und sei insbesondere auch bei Zugrundelegung dessen, daß der Porsche nahezu geradlinig mit paralleler Längsachse auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeprallt sei, bei Zugrundelegung der Kollisionsgeschwindigkeitsdifferenz von mindestens 20 km/h bis maximal 30 km/h beim Kollisionsphasenbeginn sowie der unterschiedlichen Darlegungen der Parteien zum Geschehensablauf zu dem Ergebnis gekommen, daß sich der Sachverhalt nicht weiter aufklären lasse und beide Möglichkeiten des Geschehensablaufs in Betracht kämen. Unter diesen Umständen habe das Landgericht anders als das Berufungsgericht zu Recht einen Anscheinsbeweis sowohl zu Lasten des Klägers als auch der Beklagten verneint. In solchen Fällen sei nicht von dem Erfahrungssatz auszugehen, daß der Auffahrende den Unfall infolge zu hoher Geschwindigkeit, Unaufmerksamkeit und/oder unzureichendem Sicherheitsabstand verschuldet habe. Ebenso nahe liege der Schluß, daß der auf die linke Spur gewechselte Fahrzeugführer gegen die hohen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 StVO verstoßen habe und sich der auffahrende Fahrzeugführer nicht mehr auf die vorangegangene Fahrbewegung habe einstellen und den Sicherheitsabstand einhalten können.

Nach allem habe das Landgericht zu Recht sowohl einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Klägers als auch zu Lasten der Beklagten verneint. Auf der Grundlage der Nichterweislichkeit des genauen Unfallhergangs sei aus revisionsrechtlicher Sicht auch nicht zu beanstanden, daß das Landgericht eine hälftige Schadensteilung vorgenommen habe. Das Berufungsurteil sei mithin aufzuheben.