In dem Verfahren vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen ging es in dem Urteil vom 06.02.2006 (S 10 U 110/05) um die Klage eines Gymnasiallehrers, der ein chronisches Erschöpfungssyndrom mit Tinnitus geltend machte und die Gleichstellung mit einer Berufskrankheit begehrte.

Im einzelnen:

Der 1952 geborene Kläger hatte als angestellter Lehrer an verschiedenen Gymnasien die Fächer Musik, Deutsch und Philosophie unterrichtet. Er fühlte sich durch den Schuldienst überlastet und bemühte sich, die mit einer reduzierten Stundenzahl oder einem vorzeitigem Ruhestand verbundenen finanziellen Ausfälle dadurch zu kompensieren, dass er bei der Beklagten Rentenansprüche wegen verschiedener Berufskrankheiten (BK) geltend machte. Seine drei Klagen wegen der Berufskrankheiten nach Nr. 2108, 2102 und 1317 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung hatte er zurückgenommen, nachdem er vom Sozialgericht eindringlich über die mangelnde Erfolgsaussicht belehrt worden war.

Mit dem vorliegenden Klageverfahren machte der Kläger ein „chronisches Erschöpfungssyndrom mit Tinnitus“ als eine Erkrankung geltend, die gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII wie eine Berufskrankheit zu entschädigen sein sollte.

Der Kläger war in den Jahren bis 2003 gelegentlich arbeitsunfähig gewesen wegen Infekten der Atemwege. Im ersten Halbjahr 2004 wurde er von einem Neurologen fast durchgehend arbeitsunfähig geschrieben wegen einer von diesem Arzt beim Kläger festgestellten Polyneuropathie. In dem Schuljahr 2004/2005 war er 5 mal arbeitsunfähig gewesen. Nach den Sommerferien 2005 hatte der Kläger wegen ärztlich attestierter Arbeitsunfähigkeit seinen Dienst nicht wieder aufgenommen.

Der Kläger stellte am 11.07.2004 einen Rentenantrag bei der Beklagten. Unter den Anlagen befand sich auch ein Aufsatz eines Dozenten mit dem Titel „Das Burnout-Syndrom – Eine Berufskrankheit des 21. Jahrhunderts?“ Der Verfasser kam abschließend zu dem Ergebnis, daß „beim heutigen medizinischen Wissensstand eine Aufnahme des Burnout-Syndroms in die Liste der Berufskrankheiten nicht erfolgen kann.“

Der praktische Arzt bescheinigte dem Kläger unter dem 12.02.2003 das Vorhandensein eines chronischen Erschöpfungssyndroms. Der Internist schloß in einem Bericht vom 01.04.2004 eine kardiale Grunderkrankung als Ursache des chronischen Erschöpfungssyndroms aus. Das Versorgungsamt erkannte beim Kläger aufgrund der Befundberichte seiner behandelnden Ärzte mit Bescheid vom 30.08.2004 als Behinderungen u.a. chronisches Erschöpfungssyndrom, Polyneuropathie, Tinnitus und hirnorganisches Psychosyndrom an und stellte beim Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) um 40 v. H. fest. Die im anschließenden Klageverfahren vom Sozialgericht durchgeführte Beweisaufnahme führte zu dem Ergebnis, daß beim Kläger weder die von S attestierte Polyneuropathie noch ein organisches Psychosyndrom bestehe und daß der GdB richtigerweise nur mit 20 v. H. zu bewerten wäre. Zu dem hier streitigen Erschöpfungssyndrom schrieb der als Sachverständiger gehörte Neurologe:

„Bei der psychiatrischen Untersuchung erschien der Kläger bei der Schilderung seiner Befindensstörungen, seiner beruflich empfundenen Belastungen und seiner umweltbezogenen Befürchtungen unsicher und besorgt. Sonst war er affektiv ausgeglichen. Auch die übrigen psychischen Einzelfunktionen (Bewußtseinslage, Orientierung, Aufmerksamkeit, Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit, formales und inhaltliches Denken, Wahrnehmung, Gedächtnisleistungen, intellektuelle Fähigkeiten und Antriebsfunktionen) waren nicht krankheitswertig verändert.

Im Querschnitt ergaben sich somit keine Hinweise auf eine körperlich begründbare Störung der Geistestätigkeit (ein hirnorganisches Psychosyndrom), eine sog. endogene Psychose des schizophrenen Formenkreises oder des manisch- depressiven Typus, eine einfache oder neurotische erlebnisreaktive Störung von Krankheitswert oder eine gravierende Persönlichkeits- oder Charakteranomalie.

Insgesamt fanden sich psychopathologisch keine gravierenden Befunde, die die Befindensstörungen des Klägers einem definierten psychiatrischen Krankheitsbild zuordnen ließen.

Ermüdbarkeit, Erschöpfbarkeit und Vergeßlichkeit sind bei dem Kläger als subjektive Symptome ohne faßbare körperliche Ursache oder psychopathologisches Korrelat anzusehen. Das Störungsbild ist im Rahmen der psychiatrischen Klassifikationssysteme am ehesten als Neurasthenie (ICD F 48.0) einzordnen …

Der Kläger fühlt sich zwar durch seine berufliche Tätigkeit beansprucht und belastet, ist daneben aber offensichtlich durchaus in der Lage, im Freizeitbereich (Wochenende, Schulferien) und auf nebenberuflichen Feldern (wissenschaftliche Publikationen) produktiv und kreativ zu werden (s. z.B. Bl. 11 SchwbG-Akte).

Illustriert wird die o.a. Einschätzung beispielsweise durch einen mit Prüfung und Bestnote bestandenen Studienkurs 2003. Mit einem organischen Psychosyndrom (z.B. Bl. 28 f. SchwbG-Akte) ist dieses kaum vereinbar.

Auch die selbständige, engagierte und sthenische Artikulation der eigenen Belange in beruflichen und rechtlichen Angelegenheiten mit profuser schriftlicher Produktion spricht für gut erhaltene Ressourcen und erhaltener Fähigkeit zur Überwindung der Versagensvorstellungen in motivationsbesetzten Bereichen. “

Der Sachverständige führte in seinem Gutachten vom 16.04.2005 ergänzend aus: „Der Kläger berichtet über Erschöpfungszustände sowie über eine insbesondere nachmittäglich auftretene Müdigkeit, welche ihn veranlassen würde, sich nachmittags nach dem Schuldienst für einige Stunden hinzulegen. Bei der heutigen Untersuchung, welche am Nachmittag etwa zwischen 15:30 und 16:30 stattfand, konnte ein solcher Erschöpfungszustand nicht festgestellt werden. Die körperlichen Kräfte waren altersentsprechend normal und nicht erkennbar gemindert. Auch eine Erschöpfbarkeit der Reflexe, wie sie der behandelnde Neurologe beschreibt, konnte bei der heutigen Untersuchung nicht festgestellt werden. Der Neurologe und Psychiater ordnete in seinem Gutachten die angegebene Ermüdbarkeit, Erschöpfbarkeit und Vergeßlichkeit bei dem Kläger als subjektive Symptome ohne faßbare körperliche Ursache oder psychopathologisches Korrelat der Diagnose Neurasthenie zu. Dieser Meinung schließe ich mich an. Auch von meinem Fachgebiet her ergibt sich kein Anhalt für das Vorliegen einer faßbaren körperlichen Diagnose.“

Die Beklagte erteilte dem Kläger unter dem 25.05.2005 einen ablehnenden Bescheid unter Hinweis auf § 9 Abs. 2 SGB VII und das Fehlen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Den dagegen vom Kläger eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31.05.2005 zurück.

Mit der am 06.06.2005 erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Rentenbegehren weiter.

Das Sozialgericht wies die Klage ab und führte aus, daß bei deim Kläger keine Berufskrankheit vorliege, da sich das vom Kläger geltend gemachte Krankheitsbild unter keine der Nummern in der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung einordnen lasse.

Ein Erschöpfungssyndrom infolge der schädigenden Einwirkung von Schülern oder sonstiger Eigentümlichkeiten des Schulbetriebs werde in der Anlage nicht aufgeführt. Der Tinnitus werde zwar von der medizinischen Wissenschaft als Berufskrankheit angesehen, aber nur dann, wenn er im Zusammenhang mit einer Lärmschwerhörigkeit im Sinne der BK Nr. 2301 aufträte. Für eine Lärmschwerhörigkeit beim Kläger gebe es jedoch nicht den geringsten Anhalt.

Soweit der Kläger eine Berentung des bei ihm von mehreren Ärzten diagnostizierten und von Versorgungsamt als Behinderung anerkannten Erschöpfungssyndroms wie eine BK gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII begehre, sei die Klage ebenfalls unbegründet. Denn weder sei das Vorliegen einer derartigen Erkrankung mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen, noch seien die besonderen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 SGB VII erfüllt.

Das chronische Erschöpfungssyndrom sei von den behandelnden Ärzten des Klägers unkritisch allein aufgrund der subjektiven Beschwerdeschilderungen des Klägers diagnostiziert worden.

Bei den von den unabhängigen Sachverständigen aufgrund der gerichtlichen Beweisanordnung durchgeführten Untersuchungen habe der Kläger keine Anzeichen eines Erschöpfungszustands oder einer Verminderung der körperlichen Kräfte gezeigt.

Aber selbst wenn man mit dem Kläger davon ausgehe, daß bei dem Kläger ein Erschöpfungszustand als eigenständige Erkrankung vorliege, so seien doch die speziellen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 SGB VII nicht erfüllt. Nach § 9 Abs. 2 SGB VII hätten die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der BKV bezeichnet sei oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK zu entschädigen seien, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 SGB VII vorliegen würden. Zu diesen Voraussetzungen gehörten der ursächliche Zusammenhang und die Zugehörigkeit des Versicherten zu einer bestimmten Personengruppe, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sei, die nach neueren Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft Krankheiten der betreffenden Art verursachen würden. Das Tatbestandsmerkmal der gruppentypischen Risikoerhöhung sei im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts müsse mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen zu begründen sein, daß bestimmte Einwirkungen eine generelle Eignung besitzen würden, eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Solche Erkenntnisse lägen in der Regel dann vor, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen würden, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt sei.

Es müsse sich um gesicherte Erkenntnisse handeln; nicht erforderlich sei, daß diese Erkenntnisse die einhellige Meinung aller Mediziner seien. Andrerseits reichten vereinzelte Meinungen einiger Sachverständiger nicht aus (BSG Urteil vom 21.01.1997 in 2 RU 7/96 und vom 04.06.2002 in B 2 U 20/01 R). Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt.

Der Kläger, der die Beklagte und das Gericht mit Unmengen von Veröffentlichungen zu den Belastungen im Lehrerberuf geradezu überschüttet habe, sei nicht in der Lage gewesen, auch nur eine einzige wissenschaftliche Veröffentlichung vorzulegen oder zu benennen, in der sich ein Arzt dafür ausgesprochen habe, daß die Berufsgruppe der Lehrer durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sei, die ein chronisches Erschöpfungssyndrom verursachen würden.