Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 23.02.2021 (L 10 SB 75/19)

Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG nach den Vorschriften des SGB IX.

Zu den Anforderungen, die unter Heranziehung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 20 SGB X) an die Prozessführung und Sachverhaltsaufklärung einer Landesbehörde zu stellen sind.

Zur Höhe der nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGG gegen eine Landesbehörde festzusetzenden Gebühr wegen Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung.

(…)
“ Bei zusammenfassender Betrachtung stellt der Senat fest, dass der Kläger unter erheblichen Schmerzen und nur unter Nutzung von Hilfsmitteln (Fußheberorthese, Rollator, Unterarmgehstütze) in einem kleinschrittigen – mit den Worten des Sachverständigen: kümmerlichen – Gang praktisch von den ersten Schritten außerhalb eines Kfz an bestenfalls bis zu 20 Meter weit gehen kann und dann eine Pause einlegen muss, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft ist und neue Kräfte sammeln muss, um weitergehen zu können. Hierbei handelt es sich um die erforderliche – und für das Merkzeichen aG geforderte – große körperliche Anstrengung (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R sowie Urteil vom 16. März 2016, B 9 SB 1/15 R). Das Merkzeichen aG setzt nicht voraus, dass der schwerbehinderte Mensch nahezu unfähig ist, sich fortzubewegen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R sowie Urteil vom 16. März 2016, B 9 SB 1/15 R).“

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“ Hinsichtlich des Grades der Missbräuchlichkeit bzw. der Schwere des Verschuldens nimmt der Senat zum einen in den Blick, dass das beklagte Land schon in der Vergangenheit wiederholt Berufungsverfahren ohne die aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ableitbare – in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht – gebotene Sorgfalt geführt bzw. Verfahren fortgesetzt hat, obwohl ihm die voraussichtliche Erfolglosigkeit der Rechtsverfolgung bewusst gewesen ist. Dabei waren die erkennbar erfolglosen Berufungen des beklagten Landes regelmäßig durch Entscheidungen des Berufungsgerichts zurückzuweisen. Nur beispielhaft wird insoweit auf die Verfahren L 10 SB 2/15, L 5 SB 48/15, L 10 SB 127/15, L 5 SB 128/15, L 10 SB 160/15, L 10 SB 20/16, L 10 SB 106/16, L 10 SB 131/16, L 10 SB 32/17, L 5 SB 88/17, L 10 SB 111/17, L 10 SB 36/18, L 10 SB 101/18, L 10 SB 126/18, L 10 SB 157/18, L 10 SB 161/18, L 10 SB 11/20, L 10 SB 14/20 hingewiesen. Bisherige Apelle des Berufungsgerichts, die kostenauslösende Inanspruchnahme seiner Arbeitskapazität gewissenhaft zu prüfen, blieben vom Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie bisher ungehört bzw. wurden von ihm dahingehend beantwortet, dass auch Kläger:innen erkennbar erfolglose Berufungsverfahren bis zu einer Entscheidung vorantrieben, was genauso vom Landesamt in Anspruch genommen werden könne. Diese Ansicht teilt der Senat nicht, denn er sieht im Hinblick auf die Verantwortlichkeit für eine sachgemäße Prozessführung einen grundlegenden Unterschied zwischen den in ihren subjektiven Rechten betroffenen Kläger:innen und der dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung unterliegenden Behörde.

Zum anderen bildet sich die Nachlässigkeit der Verfahrensführung im vorliegenden Fall nicht nur materiell-rechtlich, sondern auch prozessrechtlich ab. Obwohl mit der Ladung dem beklagten Land gemäß § 111 Abs. 3 SGG aufgegeben worden war, zum Termin einen Beamten oder Angestellten zu entsenden, der über die Sach- und Rechtslage ausreichend unterrichtet ist, ist im Termin zur mündlichen Verhandlung am 23. Februar 2021 niemand erschienen, um die Berufungsposition zu vertreten. Da das beklagte Land im Übrigen auch die in der Ladung enthaltende Nachfrage des Senates nach einem Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG unbeantwortet gelassen hat – das Einverständnis des Klägers mit einer solchen Entscheidung lag am 20. Januar 2021 vor – hat der Senat mit vollständiger fünfköpfiger Besetzung allein auf Veranlassung des beklagten Landes im sonst menschenleeren Sitzungssaal verhandelt.“