Bundessozialgericht, Urteil vom 04.12.2014 (B 2 U 18/13 R), PM:

Hinterbliebene, die einen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gerechtfertigten Behandlungsabbruch vornehmen, können eine Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung beanspruchen. Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat am 4. Dezember 2014 zugunsten einer Ehefrau entschieden, die bei ihrem seit Jahren im Wachkoma liegenden Ehemann die Magensonde entfernt hatte. In einem solchen Ausnahmefall greift der gesetzliche Leistungsausschluss für Personen, die vorsätzlich den Tod des Versicherten herbeigeführt haben, nicht durch.

Der 1943 geborene Ehemann der Klägerin wurde im September 2006 auf dem Heimweg von der Arbeit mit dem Fahrrad von einem Motorrad erfasst und schlug mit dem Kopf auf der Bordsteinkante auf. Hierbei zog er sich unter anderem ein schweres Schädelhirntrauma zu und verlor das Bewusstsein. Als Folge des Schädelhirntraumas bestand ein dauerhaftes Wachkoma; willkürliche Reaktionen waren nicht mehr möglich. Der Versicherte war vollständig auf pflegerische Hilfe angewiesen und wurde künstlich über eine Magensonde ernährt. Ende 2006 wurde er zur zustandserhaltenden Pflege in ein Wachkomazentrum verlegt.

Die Beklagte anerkannte den Unfall als Arbeitsunfall und gewährte dem Versicherten eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 vH. Das Unfallkrankenhaus stellte im März 2010 fest, eine positive Veränderung des Gesundheitszustands des Versicherten sei nicht mehr zu erwarten. Bei der Klägerin reifte deshalb der Entschluss, bei ihrem Ehemann die Versorgung über die Magensonde einzustellen. Gemeinsam mit ihren erwachsenen Söhnen erstellte sie einen Vermerk, nach dem sich der Verletzte vor seinem Unfall wiederholt und ganz klar geäußert habe, niemals nur durch lebensverlängernde Maßnahmen weiterleben zu wollen. Die Klägerin und ihre Söhne entschieden einvernehmlich, den Versicherten sterben zu lassen. Die Klägerin durchtrennte nach Absprache mit der Heimleitung am 12. Juli 2010 die der Ernährung des Versicherten dienende Magensonde. Der Versicherte verstarb am 20. Juli 2010 an Unterernährung, ohne nach dem Unfall das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

Die Beklagte lehnte die von der Klägerin beantragten Leistungen ab. Das Sozialgericht hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente und Sterbegeld zu zahlen, das Landessozialgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Das Bundessozialgericht hat mit seinem Urteil vom 4. Dezember 2014 diese Entscheidungen der Vorinstanzen nunmehr im Ergebnis bestätigt. Der Tod des Versicherten stellte einen Arbeitsunfall dar, weil die rechtlich wesentliche Ursache für den Tod in seinem Wegeunfall lag, denn dieser Unfall auf dem Weg von der Arbeit hat bei ihm so schwere Verletzungen ausgelöst, dass sein bereits zuvor bestehender, grundrechtlich geschützter Wille, keinen lebensverlängernden Maßnahmen ausgesetzt zu sein, erst durch diesen Versicherungsfall maßgebend zum Tragen kam.

Die beantragten Hinterbliebenenleistungen der Klägerin waren auch nicht nach § 101 Sozialgesetzbuch 7. Buch ausgeschlossen, weil die Klägerin den Tod des Versicherten vorsätzlich herbeigeführt hat. Das Bundessozialgericht hat den Geltungsbereich dieser Norm eingeschränkt, so dass sie auch bei einem vorsätzlichen Herbeiführen des Todes im Falle eines straffreien Behandlungsabbruchs keine Anwendung findet. Dies gilt jedenfalls für Fälle des gerechtfertigten Behandlungsabbruchs im Sinne der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 25. Juni 2010 ‑ 2 StR 454/09 ‑ BGHSt 55, 191 = NJW 2010, 2963). Der Senat hat damit den Willen des Gesetzgebers des sogenannten Patientenverfügungsgesetzes vom 29. Juli 2009 (BGBI 2286) im Sozialrecht nachvollzogen. Insbesondere mit der Regelung der Patientenverfügung in § 1901a Bürgerliches Gesetzbuch hat der Gesetzgeber klargestellt, dass die durch die Autonomie und Menschenwürde (Art 1 Grundgesetz) des Einzelnen getragene Entscheidung, keine lebensverlängernden Maßnahmen erdulden zu müssen, generell zu berücksichtigen ist. Ein straffreier Behandlungsabbruch, bei dem der Wille des Patienten zum Ausdruck gebracht wird, kann auch im Sozialrecht nicht mehr zu leistungsrechtlich negativen Konsequenzen für Personen führen, die ‑ wie hier die Klägerin ‑ diesen von der Rechtsordnung gebilligten Willen des Versicherten durch ihr Handeln als Betreuerin verwirklicht haben. Zudem war die Klägerin als Betreuerin gesetzlich verpflichtet, den Willen ihres Ehegatten umzusetzen. Bereits das Landessozialgericht hatte entschieden, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen eines gerechtfertigten Behandlungsabbruchs vorlagen und dabei die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Berlin über die Einstellung des Strafverfahrens gegen die Klägerin nach § 170 Abs 2 Strafprozessordnung aufgrund eigener Feststellungen nochmals strafrechtlich „nachvollzogen“. Hieran war das Bundessozialgericht gebunden.