Oberlandesgericht Hamm, Beschluß vom 13.05.2013 (2 WF 82/13):

Die Annahme der Verwirkung – hier: rückständigen Kindesunterhalts – setzt voraus, dass der Berechtigte ein Recht längere Zeit nicht geltend macht, obwohl er dazu in der Lage wäre (sog. Zeitmoment) und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte und sich darauf eingerichtet hat, dieser werde sein Recht auch künftig nicht mehr geltend machen (sog. Umstandsmoment).

Im Falle der Titulierung künftig fällig werdender Kindesunterhaltsforderungen kann das Zeitmoment bereits nach dem Verstreichen lassen einer Frist von etwas mehr als einem Jahr als erfüllt anzusehen sein.

Rückständiger Unterhalt könne grundsätzlich der Verwirkung unterliegen, wenn sich seine Geltendmachung unter dem Gesichtspunkt illoyal verspäteter Rechtsausübung als unzulässig darstelle. Die Verwirkung sei insoweit ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens. Sie setze voraus, daß der Berechtigte ein Recht längere Zeit nicht geltend mache, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre (sog. Zeitmoment) und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten darauf hätte einrichen dürfen und sich darauf eingerichtet habe, dieser werde sein Recht auch künftig nicht mehr geltend machen (sog. Umstandsmoment). Insofern gelte für Unterhaltsrückstände nichts anderes als für andere in der Vergangenheit fällig gewordene Ansprüche (vgl. BGH,  Urteil vom 23.10.2002 – XII ZR 266/99 – FamRZ 2002, 1698). Vielmehr spreche gerade bei derartigen Ansprüchen vieles dafür, an das sog. Zeitmoment der Verwirkung keine strengen Anforderungen zu stellen seien.

Von einem Unterhaltsgläubiger, der lebensnotwendig auf Unterhaltsleistungen angewiesen sei, müsse eher als von einem Gläubiger anderer Forderungen erwartet werden, daß er sich zeitnah um die Durchsetzung des Anspruchs bemühe. Andernfalls könnten Unterhaltsrückstände zu einer erdrückenden Schuldenlast anwachsen (vgl. BGH, Beschluß vom 10.12.2003 – XII ZR 155/01 – FamRZ 2004, 531). Abgesehen davon seien im Unterhaltsverfahren die für die Bemessung des Unterhalts maßgeblichen Einkommensverhältnisse der Beteiligten nach längerer Zeit oft nur schwer aufklärbar (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 25.11.2011 – 13 WF 129/11 – FamRZ 2012, 993). Diese Gründe, die eine möglichst zeitnahe Geltendmachung von Unterhalt nahelegen, seien so gewichtig, daß das Zeitmoment der Verwirkung auch dann erfüllt sein könne, wenn die Rückstände Zeitabschnitte betreffen würden, die etwas mehr als ein Jahr zurückliegen würden (vgl. BGH, Beschluss vom 10.12.2003 – XII ZR 155/01 – FamRZ 2004, 531; BGH,  Urteil vom 23.10.2002 – XII ZR 266/99 – FamRZ 2002, 1698). Denn der Gesichtspunkt des Schuldnerschutzes verdiene bei Unterhaltsrückständen für eine mehr als ein Jahr zurückliegende Zeit besondere Beachtung, wie sich beim Ehegattenunterhalt nach den gesetzlichen Bestimmungen der §§ 1585b Abs. 3, 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB für eine mehr als ein Jahr zurückliegende Zeit ableiten lasse (vgl. BGH, Beschluß vom 10.12.2003 – XII ZR 155/01 – FamRZ 2004, 531; OLG Saarbrücken, Beschluß vom 09.09.2010 – 6 UF 29/10 – MDR 2011, 168).

Diese Erwägungen seien auch für den hier verfahrensgegenständlichen Kindesunterhalt grundsätzlich übertragbar (vgl. OLG Brandenburg, Beschluß vom 25.11.2011   – 13 WF 129/11 – FamRZ 2012, 993; OLG Oldenburg, Beschluß vom 18.11.2012 – 13 UF 77/12 – JAmt 2013, 114; OLG Saarbrücken, Beschluß vom 09.09.2010 – 6 UF 29/10 – MDR 2011, 168). Im vorliegenden Fall werde der gesetzliche Mindestunterhalt geltend gemacht. Es müßten mithin besondere Gründe für das Vorliegen des Zeit- und Umstandsmomentes bestehen, weil der Antragsgegner vor Zeitablauf nicht damit rechnen könne, daß das minderjährige Kind nicht auf den Unterhalt in dieser Höhe angewiesen sei (vgl. OLG Brandenburg, Beschluß vom 25.11.2011 – 13 WF 129/11 – FamRZ 2012, 993; OLG Brandenburg, Beschluss vom 26.03.2010 – 13 WF 41/08; Viefhues in: jurisPK-BGB, 6. Aufl. 2012, § 1613 BGB Rn. 252). Seien – wie hier – die Ansprüche erst nach ihrer Titulierung fällig geworden, sei auch hier zu erwarten, daß der Unterhaltsgläubiger seine Ansprüche zeitnah durchsetze (vgl. BGH, Beschluß vom 16.06.1999 – XII ZA 3/99 – FamRZ 1999, 1422). Denn auch bei Vorliegen einer titulierten Forderung könnten ansonsten Unterhaltsrückstände zu einer erdrückenden Schuldenlast anwachsen (vgl. BGH, Beschluß vom 10.12.2003 – XII ZR 155/01 – FamRZ 2004, 531). Mithin könne auch im Falle der Titulierung künftig fällig werdender Unterhaltsforderungen das Zeitmoment bereits nach dem Verstreichenlassen einer Frist von etwas mehr als einem Jahr als erfüllt anzusehen sein (vgl. OLG Brandenburg, Beschluß vom 25.11.2011 – 13 WF 129/11 – FamRZ 2012, 993).

Dies gelte nur dann nicht, wenn Vollstreckungsversuche angesichts der finanziellen Situation des Antragstellers als Vollstreckungsschuldners voraussichtlich erfolglos geblieben wären; in diesem Fall sei das Umstandsmoment regelmäßig zu verneinen (vgl. OLG Oldenburg, Beschluß vom 18.11.2012 – 13 UF 77/12 – JAmt 2013, 114; OLG Oldenburg, Beschluß v. 23.08.2011 – 13 UF 16/11 – OLG Oldenburg, Beschluß vom 18.11.2012 – 13 UF 77/12 – JAmt 2013, 114; OLG Saarbrücken, Beschluß vom 09.09.2010 – 6 UF 29/10 – MDR 2011, 168).