Bundesverfassungsgericht – Pressestelle -: Pressemitteilung Nr. 17/2013 vom 19. März 2013
Urteil vom 19. März 2013
2 BvR 2628/10
2 BvR 2883/10
2 BvR 2155/11
„Gesetzliche Regelung zur Verständigung im Strafprozess ist verfassungsgemäß – informelle Absprachen sind unzulässig.
Die gesetzlichen Regelungen zur Verständigung im Strafprozess sind trotz eines erheblichen Vollzugsdefizits derzeit noch nicht verfassungswidrig.
Der Gesetzgeber muß jedoch die Schutzmechanismen, die der Einhaltung der verfassungsrechtlichen Anforderungen dienen, fortwährend auf ihre Wirksamkeit überprüfen und gegebenenfalls nachbessern. Unzulässig sind sogenannte informelle Absprachen, die außerhalb der gesetzlichen Regelungen erfolgen.
Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem heute verkündeten Urteil entschieden. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht die von den Beschwerdeführern angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen wegen Verfassungsverstößen im jeweiligen Verfahren aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen zugrunde:
1. Die Beschwerdeführer wenden sich gegen ihre strafgerichtliche Verurteilung im Anschluss an eine Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten. In den Verfahren 2 BvR 2628/10 und 2 BvR 2883/10 richten sich die Verfassungsbeschwerden zudem gegen die Vorschrift des § 257c Strafprozessordnung (StPO), die durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (im Folgenden: Verständigungsgesetz) eingefügt worden ist.
2. Die Verfassungsbeschwerden sind begründet, soweit sie sich gegen die angegriffenen Entscheidungen richten; im übrigen haben sie keinen Erfolg.
a) Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz, der Verfassungsrang hat. Dieser ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG) sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert (Art. 20 Abs. 3 GG). Der Staat ist von Verfassungs wegen gehalten, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten. Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen läßt.
Das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet dem Beschuldigten, prozessuale Rechte wahrzunehmen und Übergriffe – insbesondere staatlicher Stellen – angemessen abwehren zu können. Die Ausgestaltung dieser Verfahrensrechte ist in erster Linie dem Gesetzgeber aufgegeben.
Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht ergibt, daß rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde. Im Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einschließlich des Beschleunigungsgrundsatzes in den Blick zu nehmen.
Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit und die Unschuldsvermutung sind im Rechtsstaatsprinzip verankert und haben Verfassungsrang. Insbesondere muss der Beschuldigte frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er im Strafverfahren
mitwirkt.
b) Ausgehend davon tragen Verständigungen zwar das Risiko in sich, daß die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in vollem Umfang beachtet werden. Gleichwohl ist es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht schlechthin verwehrt, sie zur Verfahrensvereinfachung zuzulassen. Um den verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht zu werden, hat es der Gesetzgeber für notwendig erachtet, klare gesetzliche Vorgaben für das in der Praxis bedeutsame, aber stets umstritten gebliebene Institut der Verständigung zu schaffen. Mit dem Verständigungsgesetz hat er kein neues, „konsensuales“ Verfahrensmodell eingeführt, sondern die Verständigung in das geltende Strafprozessrechtssystem integriert.
aa) Das Verständigungsgesetz verweist ausdrücklich darauf, daß die Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, unberührt bleibt. Damit hat der Gesetzgeber klargestellt, daß eine Verständigung als solche niemals alleinige Urteilsgrundlage sein kann, sondern weiterhin ausschließlich die Überzeugung des Gerichts. Zudem ist das verständigungsbasierte Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Soweit der praktische Anwendungsbereich von Verständigungen dadurch beschränkt wird, ist dies die zwangsläufige Konsequenz der Einfügung in das System des geltenden Strafprozessrechts. Auch die rechtliche Würdigung ist der Disposition im Rahmen einer Verständigung entzogen; dies gilt auch für eine Strafrahmenverschiebung bei besonders schweren oder minder schweren Fällen.
bb) Das Verständigungsgesetz regelt die Zulässigkeit einer Verständigung im Strafverfahren abschließend. Es untersagt damit die beschönigend als „informell“ bezeichneten Vorgehensweisen bei einer Verständigung. Zudem beschränkt es die Verständigung auf den Gegenstand der Hauptverhandlung.
Sogenannte „Gesamtlösungen“, bei denen die Staatsanwaltschaft auch die Einstellung anderer Ermittlungsverfahren zusagt, sind daher unzulässig.
cc) Transparenz und Dokumentation von Verständigungen stellen einen Schwerpunkt des Regelungskonzepts dar. Dies soll eine effektive Kontrolle durch Öffentlichkeit, Staatsanwaltschaft und Rechtsmittelgericht gewährleisten. Insbesondere müssen die mit einer Verständigung verbundenen Vorgänge umfassend in die – regelmäßig öffentliche – Hauptverhandlung einbezogen werden. Dies bekräftigt zugleich, dass die richterliche Überzeugung sich auch nach einer Verständigung aus dem nbegriff der Hauptverhandlung ergeben muß. Ein Verstoß gegen die Transparenz- und Dokumentationspflichten führt grundsätzlich zur Rechtswidrigkeit einer gleichwohl getroffenen Verständigung. Hält sich das Gericht an eine solche gesetzeswidrige Verständigung, wird ein Beruhen des Urteils auf diesem Gesetzesverstoß regelmäßig nicht auszuschließen sein.
Eine herausgehobene Bedeutung kommt der Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft zu. Sie ist nicht nur gehalten, ihre Zustimmung zu einer gesetzeswidrigen Verständigung zu versagen, sondern hat auch Rechtsmittel gegen Urteile einzulegen, die auf einer solchen Verständigung beruhen.
Weisungsgebundenheit und Berichtspflichten ermöglichen es zudem, diese Kontrollfunktion der Staatsanwaltschaft nach einheitlichen Standards auszuüben.
dd) Schließlich sieht das Verständigungsgesetz vor, daß der Angeklagte darüber zu belehren ist, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen das Gericht von dem in Aussicht gestellten Ergebnis abweichen kann. Diese Belehrung soll den Angeklagten in die Lage versetzen, eine autonome Entscheidung über seine Mitwirkung an der Verständigung zu treffen. Bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht wird im Rahmen der revisionsgerichtlichen Prüfung regelmäßig davon auszugehen sein, daß das Geständnis und damit auch das Urteil hierauf beruhen.
c) Das Verständigungsgesetz sichert die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben in ausreichender Weise. Der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führt derzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung.
aa) Verfassungswidrig wäre das gesetzliche Regelungskonzept nur, wenn die vorgesehenen Schutzmechanismen in einer Weise lückenhaft oder sonst unzureichend wären, die eine gegen das Grundgesetz verstoßende „informelle“ Absprachepraxis fördert, das Vollzugsdefizit also durch die Struktur der Norm determiniert wäre.
bb) Weder das Ergebnis der empirischen Erhebung noch die in den Verfassungsbeschwerdeverfahren abgegebenen Stellungnahmen zwingen zu der Annahme, dass es strukturelle Mängel des gesetzlichen Regelungskonzepts sind, die zu dem bisherigen Vollzugsdefizit geführt haben. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Als Hauptgrund wird in der empirischen Untersuchung eine „fehlende Praxistauglichkeit“ der Vorschriften genannt. Dies spricht für ein bisher nur unzureichend ausgeprägtes Bewußtsein, daß es Verständigungen ohne die Einhaltung der Anforderungen des Verständigungsgesetzes nicht geben darf.
d) Der Gesetzgeber muß die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge behalten. Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in erheblichem Umfang über die gesetzlichen Regelungen hinwegsetzen und das Verständigungsgesetz nicht ausreichen, um das festgestellte Vollzugsdefizit zu beseitigen, muß der Gesetzgeber der Fehlentwicklung durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken. Unterbliebe dies, träte ein verfassungswidriger Zustand ein.
3. Die mit den Verfassungsbeschwerden angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen sind mit den Vorgaben des Grundgesetzes für eine Verständigung im Strafprozess nicht zu vereinbaren.
a) Die von den Beschwerdeführern der Verfahren 2 BvR 2628/10 und 2 BvR 2883/10 angegriffenen Entscheidungen verletzen sie in ihrem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und verstoßen gegen die Selbstbelastungsfreiheit. Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist. Fließt das unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht abgegebene Geständnis in das Urteil ein, beruht dieses Urteil auf der Grundrechtsverletzung, es sei denn eine Ursächlichkeit des Belehrungsfehlers für das Geständnis kann ausgeschlossen werden, weil der Angeklagte dieses auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte. Hierzu müssen vom Revisionsgericht konkrete Feststellungen getroffen werden.
b) Die im Verfahren 2 BvR 2155/11 angegriffene landgerichtliche Entscheidung verstößt schon deshalb gegen den verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz, weil das Landgericht den Beschwerdeführer im Wesentlichen auf Grundlage eines ungeprüften Formalgeständnisses verurteilt hat. Darüber hinaus beruht das Urteil auf einer Verständigung, die unzulässig über den Schuldspruch disponiert hat. In diesem Fall ist auch die Grenze zu einer verfassungswidrigen Beeinträchtigung der Selbstbelastungsfreiheit deutlich überschritten.
Das Landgericht hat eine – schon für sich gesehen übermäßige – Differenz zwischen den beiden Strafgrenzen noch zusätzlich mit der Zusage einer Strafaussetzung zur Bewährung verbunden, die überhaupt nur aufgrund der Strafrahmenverschiebung zu einem minder schweren Fall möglich war.