Der Bundesgerichtshof hatte sich in seiner Entscheidung vom 23.05.2012 (IV ZR 250/11; PM) mit der Frage zu befassen, ob der Pflichtteilsergänzungsanspruch von Abkömmlingen voraussetzt, daß diese nicht nur im Zeitpunkt des Erbfalls, sondern schon im Zeitpunkt der Schenkung pflichtteilsberechtigt waren.

Die 1976 und 1978 geborenen Kläger machten gegen die Beklagte, ihre Großmutter, im Wege der Stufenklage Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche nach ihrem 2006 verstorbenen Großvater geltend. Sie begehrten Auskunft über den Bestand des Nachlasses des Erblassers durch Vorlage eines notariell aufgenommenen Verzeichnisses, Abgabe der eidesstattlichen Versicherung und Zahlung. Die Großeltern hatten vier Kinder, unter anderem die 1984 verstorbene Mutter der Kläger. Im Jahr 2002 errichteten die Beklagte und der Erblasser ein gemeinschaftliches privatschriftliches Testament, in dem sie sich u.a. gegenseitig zu Erben einsetzten. Die Parteien stritten insbesondere darüber, ob den Klägern ein Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 Abs. 1 BGB zustehe, wenn sie zwar im Zeitpunkt des Todes des Erblassers, nicht aber im Zeitpunkt der jeweiligen Schenkungen pflichtteilsberechtigt gewesen waren. Im wesentlichen ging es darum, ob der Auskunftsanspruch auch Schenkungen erfasse, die der Erblasser vor der Geburt der Kläger zugunsten der Beklagten vorgenommen hatte. Die Vorinstanzen hatten der Auskunftsklage überwiegend stattgegeben.

Mit dem Urteil des Bundesgerichtshof vom 23.05.2012 bestätigte der BGH das Berufungsurteil und entschied, der Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 Abs. 1 BGB setze nicht voraus, daß die Pflichtteilsberechtigung bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestanden habe. Seine dem entgegenstehende frühere Rechtsprechung, die eine Pflichtteilsberechtigung sowohl im Zeitpunkt des Erbfalls als auch der Schenkung forderte (Urteile vom 21. Juni 1972 – IV ZR 69/71, BGHZ 59, 212, und vom 25. Juni 1997 – IV ZR 233/06, ZEV 1997, 373), sog. Theorie der Doppelberechtigung, hob der Senat insoweit auf. Hierbei stellte er neben dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift auf den Sinn und Zweck des Pflichtteilsrechts ab, eine Mindestteilhabe naher Angehöriger am Vermögen des Erblassers sicherzustellen. Hierfür sei es unerheblich, ob der im Erbfall Pflichtteilsberechtigte schon im Zeitpunkt der Schenkung pflichtteilsberechtigt gewesen sei oder nicht. Die bisherige Auffassung führt demgegenüber zu einer mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Absatz 1 Grundgesetz nicht zu vereinbarenden Ungleichbehandlung von Abkömmlingen des Erblassers und mache das Bestehen des Pflichtteilsergänzungsanspruchs von dem zufälligen Umstand abhängig, ob die Abkömmlinge vor oder erst nach der Schenkung geboren waren.