Das Oberlandesgericht Hamm befaßte sich in seinem Urteil vom 30.05.2011 (I-3 U 205/10) mit einem Zahnarzthaftungsfall, in welchem die Klägerin ein Behandlungs- und Aufkärungsverschulden des Zahnarztes geltend machte. Das Oberlandesgericht änderte das erstinstanzliche Urteil ab und sprach der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 8.000,00 und weiteren Schadenersatz zu.
Zum Sachverhalt:
Die am 08.06.1951 geborene Klägerin machte in dem Verfahren Schadensersatzansprüche gegen den beklagten Zahnarzt aufgrund fehlerhafter Behandlung und Aufklärung im Zusammenhang mit dem Einsatz sog. Veneers an den Oberkieferfrontzähnen geltend.
Die Klägerin hatte erstinstanzlich vom Beklagten ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 8.000,00 und die Feststellung der Schadensersatzverpflichtung des Beklagten für alle weiteren immateriellen Schäden, die ihr durch die Behandlung entstanden waren, begehrt. Ferner hatte sie bezifferte Kosten in Höhe von 177,12 für zahnärztliche Nachbehandlung und Einholung eines Privatgutachtens geltend gemacht.
Die Klägerin hatte behauptet, vor Aufbringen der Veneers seien die Frontzähne behandlungsfehlerhaft zu weit abgeschliffen worden. Bei den dann aufgebrachten Keramikschalen handele es sich schon definitionsgemäß nicht mehr um Veneers, sondern bereits um Teilkronen. Zulässig sei nur ein Abtrag von 0,3 bis 0,5 mm der Zahnhartsubstanz. Es sei fehlerhaft, über die Tiefe des Zahnschmelzes hinaus bis in das Zahnbein (Dentin) präpariert worden, was für das Aufbringen von Veneers zu viel gewesen sei.
Der Beklagte habe sie ferner nicht ordnungsgemäß über die Risiken der Behandlung mit Veneers, die die Klägerin als kosmetische Behandlung bezeichnet hatte, aufgeklärt, und zwar insbesondere nicht über die Schädigung des Zahnmarks (Pulpa) sowie eine dauerhafte, teils hochgradige thermische Empfindlichkeit und Abszedierung. Ferner habe sie der Beklagte nicht über den Verlauf der Behandlung, insbesondere die Abschleifmaßnahmen sowie über Behandlungsalternativen aufgeklärt.
Folgen der mangels ordnungsgemäßer Aufklärung rechtswidrigen und zudem fehlerhaften Behandlung seien am 03.05.2009 und 23.06.2010 aufgetretene Abszesse sowie eine chronische Pulpitis. Hiermit verbunden seien Spannungs- und Kontaktschmerzen der vier behandelten Frontzähne, die Reaktion auf thermische Reize, Einschränkungen bei der Nahrungsaufnahme, ab dem 14.04.2008 besonders starke Schmerzen an Zahn 12 vom Kiefer bis in das Ohr, eine teilweise Entstellung sowie eine Verschiebung der Zähne 11 und 12 mit der Folge einer Lückenbildung zwischen diesen Zähnen. Es seien weitere Behandlungen erforderlich, wobei die Erhaltungsfähigkeit der Zähne zweifelhaft sei.
Das Landgericht Essen hatte nach Anhörung der Parteien, Vernehmung der Zahnarzthelferin S als Zeugin sowie Einholung dreier schriftlicher Gutachten im selbständigen Beweisverfahren LG Essen, 1 OH 2/09, sowie mündlicher Erläuterungen des Sachverständigen Dr. I im genannten selbständigen Beweisverfahren und im Hauptsacheverfahren die Klage abgewiesen.
Zur Begründung hatte die Kammer ausgeführt, daß nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine fehlerhafte Behandlung der Klägerin nicht festgestellt werden könne. Bei den eingesetzten Verblendschalen handele es sich um Veneers, wenn auch mit Ausdehnungen im Seitenzahnbereich wie bei einer Teilkrone. Da es sich hier um keinen kosmetischen Eingriff gehandelt habe, könne ein Beschleifen von mehr als 0,6 mm gerechtfertigt sein; unter dieser Prämisse lasse sich ein zu weites Beschleifen nicht feststellen. Es lasse sich auch nicht feststellen, dass die Veneers zu dick gewesen seien. Auch aus der Korrektur eines Veneers lasse sich ein Behandlungsfehler nicht herleiten. Der Beklagte habe zudem den Beweis ordnungsgemäßer Aufklärung im Großen und Ganzen erbracht. Auf die Möglichkeit eines Schleiftraumas oder einer Pulpitis habe der Beklagte nicht hinweisen müssen. Die Gefahr eines Schleiftraumas sei jeder Behandlung immanent. Die Gefahr einer Pulpitis sei ein fernliegendes und keinesfalls typisches Risiko.
Mit dem Vorwurf eines behandlungsfehlerhaften Vorgehens des Beklagten drang die Klägerin bei dem Oberlandesgericht Hamm nicht durch, wohl aber mit dem Vorwurf des Aufklärungsverschuldens.
Die Klägerin habe auch nach der erneuten Befragung des Sachverständigen Dr. I im Senatstermin nicht den Beweis erbringen können, daß der Beklagte in fehlerhafter Weise zuviel Zahnsubstanz an den Frontzähnen vor Einbringen der Veneers abgeschliffen habe. So habe der Sachverständige bereits in der ersten Instanz überzeugend ausgeführt, daß sich aus der Tatsache, daß die Veneers die Größe von Teilkronen erreicht hätten, nicht auf einen Fehler schließen lasse. Insoweit habe er erläutert, daß es sich definitionsgemäß bei keramischen Verblendungen im Frontzahnbereich um Veneers und bei derartigen Versorgungen im Backenzahnbereich um Teilkronen handele. Ein Veneer im Frontzahnbereich könne also bei entsprechender Ausdehnung einer Teilkrone im Seitenzahnbereich entsprechen. Daß der Beklagte vorliegend zuviel abgeschliffen hat bzw. zu dicke Veneers aufgebracht habe, habe der Sachverständige auch nach erneuter Nachfrage durch den Senat nicht feststellen können.
Insoweit habe er unter Berücksichtigung der klinischen und radiologischen Befunde keine Feststellungen mehr dazu treffen können, in welchem Ausmaß tatsächlich Zahnschmelz abgeschliffen worden sei. Zwar sei an Teilen des Zahnes bis ins Dentin geschliffen worden. Diese Vorgehensweise liege aber an der Anatomie des Zahnes und lasse nicht auf einen Behandlungsfehler rückschließen, da es sich um keilförmige Defekte am Zahnhals handele, die jedenfalls auch bis ins Dentin hinein gingen. Zur Behebung dieser Defekte habe daher bis in das Dentin geschliffen werden müssen. Erst, wenn bis in das Zahnmark geschliffen worden wäre, hätte es sich um ein behandlungsfehlerhaftes Vorgehen gehandelt. Ein Beschleifen bis in das Zahnmark hinein habe der Sachverständige allerdings nicht mehr feststellen können.
Indessen hafte der Beklagte vertraglich gemäß §§ 280 Abs. 1 Satz 1, 241 Abs. 2 BGB sowie deliktisch gemäß § 823 Abs. 1 BGB für sämtliche Folgen seiner zahnärztlichen Behandlung im Zusammenhang mit dem Einsetzen der Veneers, weil er die Klägerin nicht hinreichend über die Risiken, die mit einer solchen Behandlung verbunden sind, aufgeklärt habe. Insbesondere habe der Beklagte die Klägerin nicht über das Risiko einer Pulpitis, d.h. einer Zahnmarkentzündung, in deren Folge auch eine Abszedierung auftreten könne, aufgeklärt. Über ein solches Risiko hätte der Beklagte allerdings nach den Kriterien, die der Bundesgerichtshof für die Risikoaufklärung entwickelt habe, aufklären müssen.
Insoweit sei nämlich auch über seltene Risiken aufzuklären, wo sie, wenn sie sich verwirklichen, die Lebensführung schwer belasten und trotz ihrer Seltenheit für den Eingriff spezifisch, für den Laien überraschend seien (s z.B. BGH, VersR 2000, 725; s. auch Senat, 3 U 169/09, Urteil vom 29.09.2010, für den Fall der Aufklärung über das mit einer Leitungsanästhesie verbundene Risiko einer dauerhaften Schädigung des nervus lingualis; vgl. auch die zahlreichen Nachweise aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sowie weiterer Obergerichte).
Nach diesen Maßstäben entfälle eine Aufklärungsverpflichtung des behandelnden Arztes oder Zahnarztes also nicht deshalb, weil, wie der Sachverständige Dr. I ausgeführt habe, eine Aufklärung deshalb in der zahnärztlichen Praxis nicht üblich sei, weil es sich um ein seltenes Risiko handele. Der Sachverständige habe auf ausdrückliche Nachfrage des Senats erklärt, daß mit jeder Beschleifung von Zähnen das typische und spezifische Risiko einer Pulpitis verbunden sei.
Wenn man, wie hier, im Grenzbereich zwischen Schmelz- und Dentin bleibe, dann sei das Risiko der Pulpitis eher selten. Es sei aber typisch und spezifisch für das Beschleifen. Somit habe es sich bei diesem Risiko auch um keine absolute Rarität gehandelt, so daß es für die Entscheidung der Klägerin zur Durchführung der Behandlung ohne jede Bedeutung gewesen wäre. Dies gelte insbesondere deshalb, weil das Einsetzen der Veneers im wesentlichen auch aus kosmetischen Gründen erfolgt sei; aus medizinischen Gründen habe nur eine relative und keineswegs irgendwie eilbedürftige Indikation für die Behandlung bestanden. Schon und gerade wegen des erheblichen kosmetischen Charakters der Behandlung seien nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erhöhte Anforderungen an die Risikoaufklärung zu stellen.
Eine solche Pulpitis könne die Lebensführung eines Patienten auch schwer beeinträchtigen, gerade wenn sie im Frontzahnbereich auftrete und dort möglicherweise ein Zahnverlust eintrete.
Der Sachverständige habe überzeugend dargelegt, daß sich aus der Behandlung des Beklagten mit Veneers bzw. den vorbereitenden Einschleifmaßnahmen bei der Klägerin in der Folgezeit eine solche Pulpitis entwickelt und sich daher das aufklärungsbedürftige Risiko in diesem Falle verwirklicht habe. Zwar sei nicht mehr genau feststellbar, wann genau die Pulpitis entstanden sei. Am 03.05.2009 sei die Pulpitis allerdings schon in eine Wurzelkanalentzündung übergegangen. Ferner habe der Sachverständige ausgeführt, daß die dauerhafte, teils hochgradige thermische Empfindlichkeit der behandelten Frontzähne und die dann nachfolgenden Abszedierungen, die im Mai 2009 und im Juni 2010 im Bereich des Zahnes 21 und im Juni 2010 im Bereich der Zähne 11 und 12 aufgetreten und von dem Zahnarzt Dr. Dr. M behandelt worden seien, als Folgen der Pulpitis zu bewerten seien. Ferner habe der Sachverständige ausgeführt, daß es medizinisch plausibel sei, daß es nach wie vor zu Rötungen und Schwellungen im Bereich der behandelten Frontzähne komme, insbesondere beispielsweise bei der Nahrungsaufnahme, wenn es zu einem schmerzhaften Kontakt der Nahrung mit den Zähnen komme.
Aufgrund der genannten, mit der bei der Klägerin entstandenen Pulpitis einhergehenden Beschwerden und Beeinträchtigungen sei der Beklagte zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes verpflichtet. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sei zu berücksichtigen, daß es zweimal zu schmerzhaften Abszessbildungen und den damit zusammenhängenden erforderlichen zahnärztlichen Behandlungen bei Dr. Dr. M gekommen sei. Bei der Schmerzensgeldbemessung falle insbesondere ins Gewicht, daß die Klägerin aufgrund der chronischen Pulpitis unter einer dauerhaften thermischen Empfindlichkeit der behandelten Frontzähne leidee und daß bei ihr im Bereich dieser behandelten Zähne regelmäßig Rötungen und Schwellungen, beispielsweise bei der Nahrungsaufnahme, eintreten würden, so daß die Klägerin gehalten sei, sich ihre Nahrung kleinzuschneiden, um möglichst eine Kontaktaufnahme der Nahrung mit den Frontzähnen zu vermeiden. Schließlich sei auch zu berücksichtigen, daß die Klägerin mit der Sorge leben müsse, daß nach den Ausführungen des Sachverständigen die behandelten Frontzähne möglicherweise dauerhaft aufgrund der Pulpitis nicht zu erhalten seien. Dagegen sei für die Schmerzensgeldbemessung nicht zu berücksichtigen, daß es tatsächlich zu dem genannten Verlust der Frontzähne kommen könne. Ein solcher zwar möglicher, aber derzeit nicht absehbarer Verlust der Frontzähne sei dem Feststellungsausspruch vorbehalten. Für diese genannten Beeinträchtigungen halte der Senat ein Schmerzensgeld in Höhe von 8.000,00 Euro für angemessen, aber auch ausreichend, um der Klägerin einen Ausgleich für die aufgrund der mangels hinreichender Aufklärung rechtswidrigen Behandlung der Frontzähne eingetretenen Beschwerden und Beeinträchtigungen zu verschaffen.
Der Feststellungsantrag der Klägerin hinsichtlich weiterer, zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vorhersehbarer immaterieller Schäden sei deshalb begründet, weil nach den Ausführungen des Sachverständigen solche Schäden, beispielsweise der Verlust der Frontzähne, durchaus möglich seien.
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