Der Bundesgerichtshof befand in seinem Urteil vom 20.09.2011 (VI ZR 55/09), gesicherte medizinische Erkenntnisse, deren Mißachtung einen Behandlungsfehler als grob erscheinen lassen können, nicht nur die Erkenntnisse, die Eingang in Leitlinien, Richtlinien oder anderweitige ausdrückliche Handlungsanweisungen gefunden hätten, seien. Hierzu zählten vielmehr auch die elementaren medizinischen Grundregeln, die im jeweiligen Fachgebiet vorausgesetzt würden.

In dem zugrundeliegenden Verfahren ging es um einen Regreß der gesetzlichen Krankenversicherung (Klägerin) gegenüber dem behandelnden Krankenhaus und der behandelnden Ärztin bezogen auf die Erstattung von Aufwendungen der Krankenkasse.

Die damals 19jährige Versicherte hatte sich am 28. Januar 2000 in dem von der Beklagten zu 1 betriebenen Krankenhaus die Mandeln entfernen lassen. Am 4. und 5. Februar 2000 traten Nachblutungen auf, weshalb der zuständige Oberarzt Dr. R. am 5. Februar 2000 um 10.00 Uhr eine umgehende Nachoperation zur Blutstillung anordnete. Gegen 11.15 Uhr wurde die nicht nüchterne, adipöse Patientin Blut spuckend in den Operationssaal gebracht.

Die Beklagte zu 2, die bei der Beklagten zu 1 als Anästhesistin beschäftigt ist, versuchte, die Patientin zu präoxygenieren, was allerdings nur eingeschränkt möglich war, da die Maske infolge der Blutung immer wieder abgenommen werden mußte. Anschließend leitete die Beklagte zu 2 die Narkose unter gleichzeitiger Applikation von Hypnotikum und Muskelrelaxans ohne Zwischenbeatmung ein. Zu diesem Zeitpunkt war der Operateur Dr. R. noch nicht im Operationssaal. Er befand sich, wie der Beklagten zu 2 bekannt war, noch in der Umkleideschleuse. Um 11.25 Uhr begann die Beklagte zu 2 mit der Intubation. Sie konnte zunächst die Stimmritze darstellen; plötzlich auftretende massive Blutungen im Rachenraum beeinträchtigten dann jedoch die Sicht der Beklagten zu 2, so daß sie den Tubus trotz Absaugbemühungen blind einführen mußte. Der Tubus geriet in die Speiseröhre der Patientin, was zu einem Abfall der Sauerstoffsättigung, der Herzschlagfrequenz und des Blutdrucks der infolge der Verabreichung der Narkosemedikation nicht mehr spontan atmenden Patientin führte. Die Beklagte zu 2 entfernte den Tubus, veranlaßte die Hinzuziehung des diensthabenden Anästhesisten der Intensivstation Dr. M. und des zuständigen Oberarztes Dr. D.. Sie versuchte eine Zwischenbeatmung mittels Maske und saugte Blut aus dem Mund/Rachenraum ab. Anschließend unternahm sie einen zweiten Intubationsversuch. Als im Zuge der Maßnahmen kurzzeitig der Krikoiddruck aufgegeben werden mußte, wurden Blutkoagel aus dem Magen der Patientin hochgespült. Auch beim zweiten Mal gelang es der Beklagten zu 2 nicht, den Tubus in die Luftröhre einzuführen. Um 11.37 Uhr war die Sauerstoffsättigung auf 16 % und um 11.38 Uhr auf 6 % abgefallen. In der Zeit zwischen 11.37 Uhr und 11.40 Uhr führte der unmittelbar zuvor hinzugekommene Hals-Nasen-Ohren-ärztliche Oberarzt Dr. R. eine Koniotomie durch. Trotz der Koniotomie stellte sich keine zufriedenstellende Sauerstoffsättigung ein; die Werte schwankten zwischen 30 und 74 %. Die Beklagte zu 2, Dr. R. und der etwa zeitgleich mit Dr. R. eingetroffene Dr. M. saugten mit einem 6,0-Tubus Blutkoagel aus der Lunge und den Bronchien der Patientin und versuchten, die Sauerstoffsättigung im Blut zu verbessern, was ihnen jedoch nicht gelang. Zwischen 11.40 Uhr und 12.10 Uhr konnte nur zweimal ein Sauerstoffsättigungswert über 60 % erreicht werden. Ansonsten schwankten die Werte zwischen 29 und 55 %.

Gegen 12.10 Uhr wurde der 6,0-Tubus durch einen 8,0-Tubus ersetzt. Danach lagen die Werte zwischen 62 und 74 %. Erst nachdem die Patientin um 12.25 Uhr durch die Beklagte zu 2, Dr. M. und den in der Zwi-schenzeit hinzugekommenen diensthabenden Oberarzt Dr. D. bronchoskopiert worden war, bewegte sich die Sauerstoffsättigung zwischen 63 und 98 %. Nach einer um 13.00 Uhr durchgeführten Tracheotomie war die Sauerstoffsättigung wieder im Normbereich.

Im Anschluß an die Operation zeigte sich bei der Patientin ein schweres neurologisches Defizit mit Vigilanzstörungen, epileptischen Anfällen und posthypoxischen Myoklonien. Sie litt im folgenden unter hypoxiebedingten Hirnfunktionsstörungen und wurde als Patientin der Pflegestufe 3 anerkannt.

Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hatte die gegen die Beklagte zu 1 gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Die Berufung gegen die Beklagte zu 2 hat die Klägerin zurückgenommen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren gegen die Beklagte zu 1 weiter.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts standen der Klägerin keine Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte zu 1 zu. Das Behandlungsgeschehen von Beginn der Anästhesie bis zur Koniotomie sei als fachgerecht und fehlerfrei zu beurteilen. Es sei insbesondere nicht fehlerhaft gewesen, daß die Beklagte zu 2 die Narkose eingeleitet habe, obwohl weder ein zweiter Anästhesist noch der Operateur im Operationssaal anwesend gewesen seien. Zwar habe es sich um eine ausgesprochene Risikokonstellation gehandelt, da die Patientin adipös und nicht nüchtern gewesen und wegen der Blutansammlung im Nasen-Rachen-Raum mit unübersichtlichen Verhältnissen zu rechnen gewesen sei. Nach dem in Deutschland geltenden Standard müsse jedoch auch in einer solchen Risikokonstellation kein zweiter Anästhesist anwesend sein. Der Operateur sei nur wenige Meter entfernt im OP-Trakt gewesen, so daß mit seiner Anwesenheit bei Bedarf habe gerechnet werden können.

Behandlungsfehlerhaft sei es allerdings gewesen, da die Bronchoskopie erst ca. 45 Minuten nach der Koniotomie durchgeführt worden sei und der 6,0-Tubus erst nach ca. 25 Minuten durch einen 8,0-Tubus ersetzt worden sei. Angesichts der anhaltenden Probleme beim Absaugen zahlreicher größerer Blutkoagel sei es fachlich geboten gewesen, nach einer kürzeren Zeit einen Austausch der Tuben vorzunehmen. Wegen der anhaltend schlechten Sättigungswerte hätte jedenfalls ab 11.50 Uhr ein Bronchoskop eingesetzt werden müssen. Hiermit habe man sich einen besseren Überblick über das Ausmaß und die Lokalisation der Koagel verschaffen und gezielter arbeiten können.

Diese Behandlungsfehler seien aber nicht als grob zu bewerten.

Zwar hätten sowohl Prof. Dr. P. als auch Prof. Dr. R. im Zusammenhang mit dem festgestellten Fehlverhalten der Ärzte den Begriff „unverständlich“ verwendet. Prof. Dr. P. habe seine Einschätzung aber später relativiert und erklärt, es sei völlig normal, daß der Anästhesist in der Situation zunächst versucht habe, abzusaugen. Auch Prof. Dr. R. habe einen groben, schlechterdings unverständlichen Fehler verneint. Bei der Patientin sei nämlich eine äußerst dramatische und schwierige Komplikation aufgetreten. Die richtige Vorgehensweise in dieser Situation würde in keinem Lehrbuch und in keiner Handlungsanweisung näher beschrieben. Da es keine klaren und feststehenden Vorgaben dazu gebe, wie in einer Situation wie der vorliegend aufgetretenen vorzugehen sei, fehle es an einem eindeutigen Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse. Zu berücksichtigen sei darüber hinaus, wie schwierig und außergewöhnlich die Bewältigung der eingetretenen Komplikation im konkreten Fall gewesen sei. Die Ärzte hätten die gebotenen und nahe liegenden Maßnahmen ergriffen, indem sie versucht hätten, das zentrale Problem der Blockade der Atemwege durch intensives Absaugen, Abhören und Einsatz verschiedener Beatmungsmittel zu bewältigen. Ohne zu wissen, wann die Verbesserung der Sättigungswerte gelinge, hätten sie abwägen müssen, wie lange sie eine bestimmte Problemlösung versuchen sollten und wann sie einen Tubenwechsel bzw. den Einsatz des Bronchoskops wagten. Auch wenn die Zeitabschnitte betreffend den Tubenwechsel und die Bronchoskopie für sich genommen sehr lang erschienen, sei die Fehleinschätzung der Ärzte zur Frage des richtigen Zeitpunkts beider Maßnahmen nicht als Fehler anzusehen, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheine, weil er einem Facharzt in der konkreten Situation schlechterdings nicht unterlaufen dürfe.

Den Beweis, daß die festgestellten Behandlungsfehler kausal für die gesundheitlichen Schäden der Patientin gewesen seien, habe die Klägerin nicht geführt.

Der Bundesgerichtshof war anderer Meinung und erkannte auf einen groben Behandlungsfehler.

Zwar richte sich die Bewertung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob nach den gesamten Umständen des Einzelfalls, deren Würdigung weitgehend im tatrichterlichen Bereich liege. Revisionsrechtlich sei jedoch sowohl nachzuprüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff des groben Behandlungsfehlers verkannt, als auch, ob es bei der Gewichtung dieses Fehlers erheblichen Prozeßstoff außer Betracht gelassen oder verfahrensfehlerhaft gewürdigt habe (st. Rspr.; vgl. etwa Senatsurteile vom 28. Mai 2002 – VI ZR 42/01; vom 27. März 2007 – VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 24; vom 16. Juni 2009 – VI ZR 157/08).

Ein solcher Rechtsfehler ist hier gegeben.

Das Berufungsgericht sei zwar zutreffend davon ausgegangen, daß ein Behandlungsfehler nur dann als grob zu bewerten sei, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen habe, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheine, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen dürfe (Senatsurteile vom 27. April 2004 – VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48, 53; vom 27. März 2007 – VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 25; vom 16. Juni 2009 – VI ZR 157/08; Beschluß vom 22. September 2009 – VI ZR 32/09).

Soweit das Berufungsgericht jedoch weiter meine, ein Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse komme nur dann in Betracht, wenn es für den konkreten Einzelfall klare und feststehende Vorgaben bzw. Handlungsanweisungen gebe, stehe dies mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht im Einklang. Gesicherte medizinische Erkenntnisse, deren Mißachtung einen Behandlungsfehler als grob erscheinen lassen könne, seien nicht nur die Erkenntnisse, die Eingang in Leitlinien, Richtlinien oder anderweitige ausdrückliche Handlungsanweisungen gefunden hätten. Hierzu zählten vielmehr auch die elementaren medizinischen Grundregeln, die im jeweiligen Fachgebiet vorausgesetzt würden (vgl. Senatsurteile vom 3. Dezember 1985 – VI ZR 106/84; vom 8. Februar 2000 – VI ZR 325/98; Senatsbeschlüsse vom 9. Juni 2009 – VI ZR 261/08, und – VI ZR 138/08. Wie die Revision unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. R. mit Recht geltend mache, gehöre hierzu auch der Grundsatz, daß ein Anästhesist bei jeder seiner Handlungen sicherzustellen habe, daß das Sauerstoffangebot den Sauerstoffbedarf des Patienten decke, da die oberste Richtschnur bei Durchführung einer Anästhesie stets die optimale Sauerstoffversorgung des Patienten sei.

Es sei nicht auszuschließen, daß das Berufungsgericht zu einer anderen Beurteilung des Falles gelangt wäre, wenn es diese Grundsätze berücksichtigt hätte. Der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. R. habe in seinem Gutachten ausgeführt, nach der Koniotomie sei es zu einer weiteren sehr lang anhaltenden Phase von mindestens 40 Minuten der schwersten Hypoxie gekommen. In der für die Patientin lebensbedrohlichen Situation sei es darum gegangen, die Blutkoageln, die die Atemwege verlegt hätten, „schnellst möglich“ zu entfernen. Vor diesem Hintergrund habe es der Sachverständige mehrfach als „unverständlich“ bzw. „völlig unverständlich“ bezeichnet, daß der Wechsel auf einen größeren Tubus erst 25 Minuten und die Bronchoskopie erst 45 Minuten nach der Koniotomie erfolgt seien. Er habe die Fehler in der Gesamtbetrachtung letztlich nur deshalb als „nicht vollkommen unverständlich“ bewertet, weil er weder Leitlinien noch wissenschaftliche Veröffentlichungen kennen würde, die Handlungsrichtlinien für einen solchen Sachverhalt enthielten, und man den erstmals mit einer solchen Situation konfrontierten Ärzten deshalb subjektiv nicht den Vorwurf machen könne, daß ihre Handlungsweise vollkommen unverständlich sei.

Auf die subjektive Vorwerfbarkeit komme es aber nicht an. Die Annahme einer Beweislastumkehr nach einem groben Behandlungsfehler sei keine Sanktion für ein besonders schweres Arztverschulden, sondern knüpfe daran an, daß die Aufklärung des Behandlungsgeschehens wegen des Gewichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in besonderer Weise erschwert worden sei, so daß der Arzt nach Treu und Glauben dem Patienten den Kausalitätsbeweis nicht zumuten könne (vgl. Senatsurteile vom 26. November 1991 – VI ZR 389/90; vom 27. März 2007 – VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 25; vom 16. Juni 2009 – VI ZR 157/08; vom 6. Oktober 2009 – VI ZR 24/09; vom 16. März 2010 – VI ZR 64/09). Erforderlich aber auch genügend sei deshalb ein Fehlverhalten, das nicht aus subjektiven, in der Person des handelnden Arztes liegenden Gründen, sondern aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheine (vgl. Senatsurteil vom 26. November 1991 – VI ZR 389/90).

Das Berufungsurteil sei allein aus diesem Grund aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es die erforderlichen Feststellungen treffen könne (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht werde dabei Gelegenheit haben, sich gegebenenfalls auch mit den weiteren Einwänden der Revision – insbesondere zur Fehlerhaftigkeit der Vornahme eines zweiten Intubationsversuchs – zu befassen und zu prüfen, ob die Häufung mehrerer an sich nicht grober Fehler die Behandlung insgesamt als grob fehlerhaft erscheinen lässe (vgl. Senatsurteile vom 16. Mai 2000 – VI ZR 321/98, BGHZ 144, 296, 303 f.).