Das Kammergericht Berlin befand in seinem Beschluß vom 01.09.2011 (2 Ws 383/11 Vollz), daß eine Urinprobe auf keinen Fall unter Zeitdruck erfolgen dürfe. Es müsse – wie bei einer Dopingprobe aufgrund sportrechtlicher Richtlinien – auf die Abgabe des Urins gewartet werden, sofern sich der Gefangene nicht durch Worte oder Gesten weigere, den Anordnungen zu folgen. Bleibe lediglich der Urinfluß aus, so dürfe die Probe nicht abgebrochen und auch nicht als verweigert gewertet werden.

In dem zugrundeliegenden verfahren verbüßte der Antragsteller in der JVA Charlottenburg eine Freiheitsstrafe. Am Morgen des 30. März 2011 ordnete der Gruppenleiter an, dem Gefangenen eine Urinprobe zur Kontrolle auf Drogenkonsum abzunehmen. In Kenntnis des bisherigen Lebensweges des wegen Vergehens gegen das BtMG inhaftierten Antragstellers und wegen dessen erkennbarer Stimmungsschwankungen sei dies erforderlich gewesen. Aus diesem Grunde forderten ihn Vollzugsbedienstete auf, eine Urinprobe abzugeben. Der davon überraschte Gefangene folgte den Bediensteten in den dafür vorgesehenen Raum, erwähnte aber, er werde zu der Abgabe nicht sofort in der Lage sein, da er kurz zuvor seine Morgentoilette beendet habe. Daraufhin wurde ihm 0,6 Liter Wasser gereicht, das er auch trank. Gleichwohl gab er bis zum Abbruch des Versuchs nach 90 Minuten keinen Urin ab.

Der Gefangene führte dies auf Harnverhaltung (Panuresis) aus psycho-physischen Gründen zurück, die er näher ausführte.

Die Anstalt ging von einer Verweigerung aus. Wegen dieser Weigerung hatte sie gegen den Gefangenen Disziplinarmaßnahmen

[ Entzug des Radio- und Fernsehempfangs, Entzug der Gegenstände für eine Beschäftigung in der Freizeit (Einzug Radio, TV-Gerät) und getrennte Unterbringung in der Freizeit – jeweils für sieben Tage –] erlassen und – nach erfolglosem Abschluß eines Verfahrens gemäß § 114 StVollzG – vollstreckt.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung von Seiten des Gefangenen wurde von der Strafvollstreckungskammer als unbegründet zurückgewiesen. Hiergegen richtete sich die Rechtsbeschwerde des Gefangenen, der das Kammergericht stattgab.

Das Kammergericht führte in seinem Beschluß aus, daß die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme eine schuldhafte – bei dem Vorwurf einer Weigerung sogar eine vorsätzliche – Pflichtverletzung voraussetze. Ohne den Nachweis einer Schuld dürfe eine Disziplinarmaßnahme nicht verhängt werden.

Daran fehle es vorliegend; denn die Ansicht der Strafvollstreckungskammer, der Gefangene habe die Abgabe der Probe verweigert, habe keine ausreichende Tatsachengrundlage, sondern erschöpfe sich in denselben Vermutungen und einer rechtswidrigen Fiktion, die dem unkritisch übernommenen Anstaltsvorbringen zugrunde gelegen hätten.

Die Stellungnahme der Anstaltsärztin sage lediglich aus, daß grundsätzlich nach der Zuführung von etwa einem halben Liter Wasser eine ausreichende Menge Urin abgegeben werden können müßte. Auf die Einzelheiten des Falles, namentlich die von dem Beschwerdeführer eingehend geschilderten psycho- physischen Hemmnisse, gehe weder diese Stellungnahme noch der Beschluß ein. Die Auslegung seines Vortrags, er habe nur als Kind an Panuresis gelitten, jetzt aber nicht mehr, gehe an dessen wahrem Inhalt vorbei. Auf diese Weise dürfe sich ein Gericht keine Überzeugung bilden.

Die Aufhebung des Beschlusses der strafvollstreckungskammer führte nicht zur Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer, weil der Senat in der Sache entscheiden konnte.

Die Schilderungen der Anstaltsbediensteten würden ausweisen, daß der Begriff „Verweigerung“ unabhängig vom „Nichtwollen“ und „Ablehnen“ verwendet worden sei und zum Beleg des Vorsatzes des Gefangenen nicht tauge. Aus der Fähigkeit eines durchschnittlichen Menschen, nach Aufnahme eines halben Liters Wassers jedenfalls nach 90 Minuten wieder in der Lage zu sein zu urinieren, werde ohne weiteres gefolgert, das müsse bei dem Beschwerdeführer ebenso sein.

Es habe nicht unbedingt der Einreichung eines literarischen Werks (Jonathan Franzen: Freiheit), in dem Harnverhaltung dramatisch geschildert werde, durch den Verteidiger bedurft, um das Fehlen des Vorsatzes nicht nur als möglich darzustellen, sondern zu beweisen.

In einem internen Vermerk der Beamte H. im wesentlichen dargestellt, wie er selbst die Probe ordnungsgemäß, professionell, die Menschenwürde achtend etc. durchgeführt habe. Das Verhalten des Gefangenen schilderte er wie folgt: „Herr K. sagte, er sei zur Abgabe grundsätzlich bereit, aber durch die kürzliche Verrichtung der Morgentoilette sei das Warten wohl erfolglos. Es folgten 2 erfolglose Versuche mangels Urin (!). Weitere 30 Minuten und 1 Versuch später brach ich die angestrebte Abgabe erfolglos nach nunmehr 90 min ab. Auf drohende Disziplinarmaßnahmen wegen Nichtabgabe wurde Herr K. hingewiesen. Daraufhin bot Herr K. eine Blutentnahme auf eigene Kosten an“.

Der Beamte habe die Prozedur wie folgt beschrieben: „Kann der Gefangene in der ihm zur Verfügung gestellten Zeit der Abgabe nicht Folge leisten, wird das als verweigert gewertet. Dem Gefangenen wird eine bestimmte Zeit gewährt, bis die Urinabgabe endgültig vollzogen sein muss (nach Vorgaben der damit beauftragten Arbeitsgruppe und der med. Abt. ist diese Menge Flüssigkeit nach 45 Minuten vom Organismus verarbeitet und kann ausgeschieden werden). Ist es dem Gefangenen nicht möglich Urin abzugeben, wird abgebrochen und als verweigert gewertet. … Im vorliegenden Fall wurde dem Gefangenen … sogar 1 Stunde und 30 Minuten gewährt. Bedenkt man, dass während dieser Wartezeit alle anderen Dienstabläufe beeinträchtigt werden, ist das weit über das von der med. Abt. empfohlene Maߓ.

Diese Stellungnahmen der Beamten würden eine grundlegende Verkennung der Bedeutung des Begriffs „Weigerung“ ausweisen. Wer sich weigere, lehne die Ausführung einer Anordnung oder eines Vorschlags ab, durch Worte oder durch die Tat. Dieses Verhalten sei nur in vorsätzlicher Begehungsweise denkbar. Wer zu der Handlung unfähig isei, weigere sich nicht. Auf den Vorsatz, der Anordnung nicht zu folgen, dürfe nicht daraus geschlossen werden, daß ein Gefangener nicht den psycho-physischen Verhaltensweisen und Fähigkeiten einer von einer Arbeitsgruppe bewerteten durchschnittlichen Personengruppe entspreche. Der Gefangene habe ausweislich des Vermerks des Beamten H. sogar dreimal erfolglos versucht, Urin abzugeben. Eine Weigerung liege darin nicht, ja erscheine nachgerade ausgeschlossen.

Die Urinprobe sei nach einer bestimmten, von den Beamten, die ihre Aufgaben pflicht- und anweisungsgemäß ausgeführt hätten, aufgrund der Vorgabe der medizinischen Abteilung sogar als generös empfundenen Zeit ihrerseits abgebrochen worden und deswegen „als verweigert gewertet“. Das sei eine rechtliche Fiktion, die den Schuldgrundsatz auf den Kopf stelle. Eine Urinprobe dürfe auf keinen Fall unter Zeitdruck erfolgen. Es müsse – wie bei einer Dopingprobe aufgrund sportrechtlicher Richtlinien- auf die Abgabe des Urins gewartet werden, sofern sich der Gefangene nicht durch Worte oder Gesten weigere, den Anordnungen zu folgen. Bleibe – wie hier – lediglich der Urinfluß aus, so dürfe die Probe nicht abgebrochen und auch nicht als verweigert gewertet werden.