Der Bundesgerichtshof befand in dem angegebenen Beschluß (VII ZB 78/09 20.04.2011), daß, wenn der Vorsitzende des Berufungsgerichts anläßlich der Aktenvorlage zur Vornahme prozeßleitender Verfügungen ohne weiteres und einwandfrei erkennen könne, daß die örtliche Zuständigkeit des Berufungsgerichts unter keinem Gesichtspunkt eröffnet sei, und veranlasse er gleichwohl nicht die noch rechtzeitig mögliche Einlegung der Berufung beim zuständigen Berufungsgericht, der Anspruch des Rechtsmittelführers auf ein faires Verfahren verletzt sei.

Ein Verschulden der Partei oder ihres Prozeßbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) an der Fristversäumung wirke sich dann nicht mehr aus, so daß der Partei Wiedereinsetzung zu gewähren sei.

In der zugrundeliegenden Entscheidung war das der Klage überwiegend stattgebende Urteil des Amtsgerichts den Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 5. November 2008 zugestellt worden. Der Berufungsschriftsatz vom 24. November 2008 war am 25. November 2008 beim Landgericht S. eingegangen. In der Berufungsschrift war das in erster Instanz tätige Amtsgericht C. dreimal namentlich genannt. Zudem war das Ersturteil als Anlage beigefügt gewesen. Zuständig für Berufungen gegen Urteile des Amtsgerichts C. war das Landgericht T. Am 26. November 2008 wurden der Klägerin Abschrift der Berufungsschrift erteilt und die Akten beim Amtsgericht C. angefordert. An diesem Tag zeichnete der Vorsitzende Richter der Berufungskammer des Landgerichts S. das Aktenvorblatt und die Aktenanforderung beim Amtsgericht C. ab. Nach Eingang der Vertretungsanzeige der Klägerin wies der Vorsitzende der Berufungskammer am 2. Dezember 2008 die Erteilung einer Abschrift an den Beklagtenvertreter an. Am 5. Dezember 2008 lief die Berufungsfrist ab. Am 19. März 2009 wurden die Parteien vom Landgericht S. auf dessen örtliche Unzuständigkeit hingewiesen. Daraufhin nahm die Beklagte ihre Berufung zum Landgericht S. zurück, legte am 2. April 2009 Berufung beim Landgericht T. ein und beantragte gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist.

Das Berufungsgericht versagte die beantragte Wiedereinsetzung und verwarf die Berufung der Beklagten als unzulässig. Dagegen wandte sich die Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.

Der Bundesgerichthof führte aus, daß anders als in Fällen, in denen fristgebundene Rechtsmittelschriftsätze irrtümlich bei dem im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache bereits befaßten Gericht eingereicht würden (vgl. dazu etwa BGH, Beschluss vom 28. Juni 2007 – V ZB 187/06, MDR 2007, 1276, 1277 m.w.N.), allerdings keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen Rechtsmittelgerichts bestehe, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Juni 2004 – VI ZB 75/03; vom 18. März 2008 – VIII ZB 4/06).

Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten sei, könne sich nicht nur am Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern müsse auch berücksichtigen, daß die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden msse.

Einer Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten müsse die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden (vgl. BVerfGE 93, 99, 114; BGH,Beschlüsse vom 5. Oktober 2005 – VIII ZB 125/04 und vom 18. März 2008).

Etwas anders gelte allerdings dann, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts „ohne weiteres“ bzw. „leicht und einwandfrei“ zu erkennen gewesen sei und die nicht rechtzeitige Aufdeckung der nicht gegebenen Zuständigkeit auf einem offenkundig nachlässigen Fehlverhalten des angerufenen Gerichts beruhe. In diesen Fällen stelle es für die Funktionsfähigkeit des angerufenen Gerichts keine nennenswerte Belastung dar, einen fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs an das zuständige Gericht weiterzuleiten.

Geschiehe dies nicht, gehe die nachfolgende Fristversäumnis nicht zu Lasten des Rechtsuchenden; das Verschulden des Prozeßbevollmächtigten wirke sich dann nicht mehr aus.

Ein solcher Fall liege hier entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts vor.

Für den Vorsitzenden der Berufungskammer des Landgerichts S. sei mit einem Blick auf die Berufungsschrift vom 24. November 2008 und das als Anlage beigefügte Urteil des Amtsgerichts C. in der Lage zu erkennen gewesen, daß die Zuständigkeit seines Gerichts unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gegeben geeesen sei.

Anders als in den entschiedenen Fällen der Zuständigkeit mit Auslandsbezug nach § 119 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b GVG a.F. (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Oktober 2005 – VIII ZB 125/04, und vom 14. Dezember 2010 – VIII ZB 20/09) sei die Zuständigkeitsprüfung auch nicht schwierig oder nur mittels der Verfahrensakte zu ermitteln gewesen, sondern eindeutig allein aufgrund der Zuordnung des Amtsgerichts C. zum Gerichtsbezirk des Landgerichts T. vorzunehmen. Der Vorsitzende sei am 25. November und 2. Dezember 2008 mit der Sache befaßt gewesen und habe prozeßleitende Verfügungen getroffen. Dabei habe ihm die offensichtliche örtliche Unzuständigkeit seines Gerichts sofort und ohne weitere Prüfung ins Auge fallen müssen. Er sei ohne Anstrengung und ohne nennenswerte Belastung sofort in der Lage gewesen, den fehlgeleiteten Berufungsschriftsatz an das zuständige Landgericht T. weiterzuleiten oder den Prozeßbevollmächtigten der Beklagten jedenfalls auf die fehlende örtliche Zuständigkeit des Landgerichts S. hinzuweisen. Da die Berufungsfrist erst am 5. Dezember 2008 abgelaufen sei, mithin zwischen dem Eingang der Berufungsschrift und der ersten Möglichkeit des Gerichts, die Unzuständigkeit zu bemerken und zu reagieren, ein vergleichsweise langer Zeitraum von 10 Tagen gelegen habe, hätten alle Maßnahmen zu einem rechtzeitigen Eingang beim zuständigen Landgericht T. geführt. In diesem Fall gehe die nachfolgende Fristversäumung nicht zu Lasten des Rechtssuchenden; das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten wirke sich dann nicht mehr kausal aus.

Der Beklagten sei danach unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren.