Der Bundesgerichtshof XII ZB 50/11 17.08.2011 befand in dem hier angegebenen Beschluß, daß, wenn es für das Beschwerdegericht ohne weiteres zu erkennen sei, daß die an es adressierte Beschwerdeschrift gemäß § 64 FamFG an das Amtsgericht hätte gerichtet werden müssen, es sie an letzteres im ordentlichen Geschäftsgang weiterzuleiten habe.

Wäre der fristgerechte Eingang der Beschwerdeschrift beim Amtsgericht bei der gebotenen Weiterleitung zu erwarten gewesen, sei dem Rechtsmittelführer bei unterbliebener Weiterleitung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das gelte auch dann, wenn er vom Amtsgericht zutreffend über die Einlegung der Beschwerde belehrt worden sei.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folge aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren aus Artikel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die Verpflichtung des Richters, das Verfahren so zu gestalten, wie die Parteien es von ihm erwarten dürfen. Insbesondere sei der Richter allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet. Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten sei, könne sich aber nicht nur am Interesse des Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern müsse auch berücksichtigen, daß die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden müsse.

Danach müsse der Partei und ihrem Prozeßbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden. Die Abwägung zwischen den betroffenen Belangen falle etwa dann zugunsten des Rechtsuchenden aus, wenn das angegangene Gericht zwar für das Rechtsmittelverfahren nicht zuständig, jedoch vorher mit dem Verfahren befaßt gewesen sei. Gleiches gelte für eine leicht und einwandfrei als fehlgeleitet erkennbare Rechtsbehelfsschrift. In diesen Fällen der offensichtlichen eigenen Unzuständigkeit stelle es für die Funktionsfähigkeit des Gerichts keine übermäßige Belastung dar, in Fürsorge für die Verfahrensbeteiligten einen fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Geschehe dies nicht, könne die nachfolgende Fristversäumnis nicht zu Lasten des Rechtsuchenden gehen und es sei Wiedereinsetzung zu gewähren (BVerfG).

Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts habe sich der Bundesgerichtshof angeschlossen (s. etwa BGH Urteil vom 1. Dezember 1997 – II ZR 85/97 -; Senatsbeschluß vom 15. Juni 2011 – XII ZB 468/10 -).

Anders als in Fällen, in denen fristgebundene Rechtsmittelschriftsätze irrtümlich bei dem im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache bereits befaßten Gericht eingereicht würden, bestehe zwar keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen Rechtsmittelgerichts, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern. Etwas anderes gelte allerdings dann, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts „ohne weiteres“ bzw. „leicht und einwandfrei“ zu erkennen sei (vgl. BGH Beschluß vom 24. Juni 2010 V ZB 170/09).

Diese Grundsätze seien gleichermaßen auf den vorliegenden Fall anzuwenden, in dem die Beschwerde in einer Familienstreitsache anstatt an das gemäß § 64 Abs. 1 FamFG für ihre Entgegennahme zuständige Amtsgericht an das Beschwerdegericht adressiert worden sei. Das angerufene Gericht habe die Beschwerdeschrift im ordentlichen Geschäftsgang an das Amtsgericht weiterzuleiten, wenn ohne weiteres die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts erkennbar und – damit regelmäßig – die Bestimmung des zuständigen Gerichts möglich sei. Denn auch in diesen Fäl-len der offensichtlichen eigenen Unzuständigkeit stelle es für die Funktionsfähigkeit des Gerichts keine übermäßige Belastung dar, in Fürsorge für die Verfahrensbeteiligten einen fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs an das zuständige Gericht weiterzuleiten.

Daran ändere auch die mit § 39 FamFG eingeführte Rechtsbehelfsbelehrung nichts.

Zwar werde durch sie regelmäßig für den Beschwerdeführer hinreichende Klarheit darüber geschaffen, bei welchem Gericht er sich gegen die erstinstanzliche Entscheidung wenden könne (BT-Drucks. 16/6308 S. 206). Lege der Beschwerdeführer trotz zutreffender Rechtsbehelfsbelehrung sein Rechtsmittel beim unzuständigen Gericht ein, spreche das – unbeschadet einer anwaltlichen Vertretung – für sein Verschulden im Sinne des § 233 ZPO. Davon unberührt bleibe jedoch die Verpflichtung des Gerichts, bei entsprechender Erkennbarkeit die Rechtsmittelschrift an das zuständige Gericht weiterzuleiten.

Bei Vorliegen der angefochtenen Entscheidung werde dem Gericht die Erkennbarkeit seiner eigenen Unzuständigkeit durch die Rechtsbehelfsbelehrung vielmehr noch erleichtert.

Das angerufene Gericht werde seine Unzuständigkeit regelmäßig ohne weiteres erkennen können, wenn der Rechtsmittelführer mit der Beschwerde eine Ausfertigung der angefochtenen Entscheidung einreiche. Dabei sei maßgeblich, welches Recht das Ausgangsgericht angewandt habe. Sei dieses – wie im Streitfall – von der Anwendung neuen Rechts, also des FamFG, ausgegangen, so habe das Beschwerdegericht (zunächst) von der Anwendung diesen Rechts auszugehen. Sollte sich im nachhinein herausstellen, daß das Ausgangsgericht tatsächlich altes Recht hätte anwenden müssen mit der Folge, daß das angerufene Gericht für den Eingang der Beschwerde zuständig gewesen wäre, sei dies für die Zulässigkeit des Rechtsmittels unschädlich. Denn zum einen ändere die Weiterleitung des Rechtsmittels an das Ausgangsgericht nichts an der Tatsache, daß jenes rechtzeitig beim Beschwerdegericht eingegangen sei. Zum anderen würden nach der Rechtsprechung des Senats in solchen Fällen der so genannte Meistbegünstigungsgrundsatz greifen (Senatsbeschluß vom 6. April 2011 – XII ZB 553/10 -). Danach werde die Rechtsmittelfrist auch durch die Einlegung einer Beschwerde beim Ausgangsgericht gewahrt.

Unterbleibe allerdings die Vorlage einer entsprechenden Ausfertigung, die gemäß § 64 FamFG keine Zulässigkeitsvoraussetzung darstelle, liege dem Beschwerdegericht also allein die Beschwerdeschrift vor und lasse sich dieser nicht entnehmen, daß es unzuständig sei, sei es nicht verpflichtet, weitere Ermittlungen anzustellen. Sofern sich allerdings aus den angeforderten Gerichtsakten seine Unzuständigkeit ergeben sollte, sei das Gericht verpflichtet, nach Eingang der Akten die Beschwerdeschrift an das zuständige Gericht weiterzuleiten, vorausgesetzt, die Frist könne noch im ordentlichen Geschäftsgang gewahrt werden.

Weitere Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung sei, daß die bei einer Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang verbleibende Zeit für die Fristwahrung ausreichend sei.

Gemessen an diesen Anforderungen hätte das Kammergericht die Beschwerdeschrift an das Amtsgericht weiterleiten müssen und demgemäß die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht ablehnen dürfen.