Das Sozialgericht Aachen beschäftigte sich in seinem Urteil vom 26.10.2010 (S 6 R 136/10) mit der Frage der Rechtmäßigkeit bzw. der Rechtswidrigkeit der Aufhebung eines Rentenbescheides und der Rückforderung von Zuschüssen zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung.

Dem Verfahren lag nachstehender Sachverhalt zugrunde:

Die Klägerin beanragte, nachdem ihr Ehemann am verstorben war, im Jahre 1993 Hinterbliebenenrente sowie einen Zuschuß zur freiwilligen Krankenversicherung. Mit Bescheid vom 16.11.1993 gewährte die Beklagte ihr große Witwenrente aus der Versicherung ihres Ehemannes. Mit Bescheid vom 10.12.1993 gewährte die Beklagte einen Zuschuß zur bei der C. F. bestehenden freiwilligen Krankenversicherung der Klägerin und berechnete ihre Witwenrente neu. Dieser Bescheid enthielt auf Seiten 3 f. folgenden Zusatz:

„Der Anspruch auf Beitragszuschuß entfällt mit der Aufgabe oder Ruhen der freiwilligen Krankenversicherung und bei Eintritt von Krankenversicherungspflicht. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns jede Änderung des Krankenversicherungsverhältnisses und jede Änderung der Beitragshöhe unverzüglich mitzuteilen.

Nach Einführung der sozialen Pflegeversicherung erhielt die Klägerin von der Beklagten auch einen Zuschuß zur bei der C. E. – Pflegekasse – bestehenden freiwilligen Pflegeversicherung. Die Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung wurden aus der Rente der Klägerin, aus Versorgungsbezügen sowie aus Einnahmen aus Vermietung und Verprachtung berechnet und gezahlt. In Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.03.2000 (Az. 1 BvL 16/96 u.a. = BVerfGE 102, 68 ff.) stellte die C. E. zum 01.04.2002 die Kranken- und Pflegeversicherung der Klägerin in eine Pflichtversicherung um. In diesem Zusammenhang wurden die freiwilligen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zuletzt im März 2002 vom Konto der Klägerin abgebucht. Hierzu erhielt die Klägerin von der C. E. ein Erläuterungsschreiben vom 25.02.2002 (Bl. 52 der Verwaltungsakte der Beklagten).

Durch einen Fehler der C. E. unterblieb die Meldung der Umstellung der Kranken- und Pflegeversicherung, die Beklagte zahlte der Klägerin weiter die Zuschüsse zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung. Anläßlich einer internen Überprüfung am 19.11.2008 stellte die Beklagte fest, daß die Klägerin seit 01.04.2002 als Rentnerin gesetzlich kranken- und pflegeversichert war. Mit (bestandskräftigem) Bescheid vom 28.11.2008 erhob sie Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung nach und hörte die Klägerin zur beabsichtigten Aufhebung des Bescheides über die Bewilligung eines Zuschusses zur Krankenversicherung an (Anlage 10 des Bescheides vom 28.11.2008). Mit Bescheid vom 19.10.2009 hob die Beklagte den Bescheid vom 10.12.1993 für die Zeit ab 01.04.2002 auf. Es errechnete sich eine Überzahlung in Höhe von insgesamt 4.102,02 €, welche die Beklagte gegenüber der Klägerin auf die Hälfte dieses Betrages (2.051,01 €) reduzierte. Zur Begründung führte sie aus, angesichts des Aufklärungsschreibens der C. E. hätte die Klägerin den Wegfall der Voraussetzungen für Beitragszuschüsse erkennen müssen. Jedoch liege ein erhebliches Mitverschulden der C. E. vor, das sich die Beklagte zurechnen lassen müsse, weshalb sie die Rückforderung im Wege des Ermessens auf den hälftigen Überzahlungsbetrag beschränke. Die Klägerin legte am 21.10.2009 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15.02.2010 unter Vertiefung ihrer bisherigen Ausführungen zurückwies.

Hiergegen richtete sich die am 04.03.2010 erhobene Klage.

Die Klägerin legte dar, wegen der Verbeitragung der Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung sei die Höhe der Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung ohnehin Schwankungen unterworfen gewesen. Nach dem 01.04.2002 sei eine Verbeitragung dieser Einnahmen unterblieben, so daß sie allein aus diesem Grund rund 251,- € pro Monat mehr auf ihrem Konto gehabt habe. Es könne ihr daher nicht zum Vorwurf gereichen, daß ihr der Wegfall der Beitragsabbuchung aus ihrer Rente bei weitergehender Zahlung von Beitragszuschüssen nach dem 01.04.2002 nicht aufgefallen sei. Daran ändere auch das Aufklärungsschreiben der C. E. vom 25.02.2002 nichts.

Die Beklagte sah das anders und führte aus, aus dem Aufklärungsschreiben der C. E. habe sich ergeben, daß die Hinterbliebenenrente der Klägerin geringer werde. Durch die irrtümlich weitergezahlten Zuschüsse aber sei die Rente nicht geringer geworden, was der Klägerin hätte auffallen müssen.

Auf Anfrage des Gerichts teilte die Beklagte unter dem 07.05.2010 mit, Personen, die am 31.12.1994 eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie einen Zuschuß zur Krankenversicherung erhalten hätten, sei ab 01.01.1995 ein Zuschuß zur Pflegeversicherung gezahlt worden. Hierüber hätten die Rentenempfänger ein entsprechendes schriftliches Informationsschreiben erhalten. Die Klägerin teilte auf Anfrage mit, dieses Informationsschreiben liege ihr nicht mehr vor.

Das Gericht befand die Klage als begründet. Die Klägerin werde durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie rechtswidrig seien. Die Rückforderung der gewährten Zuschüsse für die Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von insgesamt 2.051,01 € sei zu Unrecht erfolgt.

Die angefochtenen Bescheide seien bereits insoweit rechtswidrig, als der Zuschuß zu den Aufwendungen der gesetzlichen Pflegeversicherung von der Klägerin zurückgefordert worden sei. Denn mit Bescheid vom 10.12.1993 war lediglich ein Zuschuß zur Krankenversicherung gewährt worden, die soziale Pflegeversicherung existierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Es lägen jedoch auch die Voraussetzungen des § 50 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) insoweit nicht vor, weil – wie die Beklagte auf Anfrage mitgeteilt hatte – der Zuschuß zu den Aufwendungen der Pflegeversicherung der Klägerin ab 01.01.1995 gezahlt und die Klägerin hierauf in einem Informationsschreiben hingewiesen worden sei.

Da unter diesen Umständen in diesem Informationsschreiben bzw. in den nach dem 01.01.1995 erfolgten Rentenanpassungsmitteilungen ein Bewilligungsbescheid zu sehen sei (vgl. dazu allgemein BSG, Urteil vom 24.01.1995 – 8 RKn 11/93 = BSGE 75, 291 ff.), stelle das Informationsschreiben der Beklagten bzw. die erste Rentenanpassungsmitteilung nach Gewährung des Zuschusses zur Pflegeversicherung weiterhin den Rechtsgrund für das Behaltendürfen dieses Zuschusses dar.

Abgesehen hiervon seien die angefochtenen Bescheide jedoch auch insgesamt rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung nicht gegeben seien.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheides vom 10.12.1993 sei § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X.

Die formell-rechtlichen Anforderungen für eine rückwirkende Aufhebung begünstigender Verwaltungsakte seien gegeben, insbesondere sei die Klägerin in einer § 24 Abs. 1 SGB X genügenden Weise angehört worden.

Auch lägen die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vor. Der Bescheid vom 10.12.1993 stelle einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dar. Auch sei in den tatsächlichen Verhältnissen, die diesem Bescheid zugrundelagen, ab 01.04.2002 eine wesentliche Änderung eingetreten. Seit diesem Datum nämlich bestand für die Klägerin keine freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung mehr, so daß die Voraussetzungen des § 106 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) bzw. des § 106a SGB VI (in der bis zum 31.03.2004 geltenden Fassung) für einen Zuschuss zu den Aufwendungen für die Kranken- und Pflegeversicherung nicht mehr erfüllt gewesen seien.

Es fehlt jedoch an den Voraussetzungen für die Aufhebung eines Dauerverwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit.

Die Voraussetzungen der Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X seien nicht erfüllt. Zwar sei die Klägerin einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für sie nachteiliger Änderungen der Verhältnisse nicht nachgekommen. Eine solche Pflicht folge aus § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Erste Buch – Allgemeiner Teil (SGB I). Danach seien Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich seien, unverzüglich mitzuteilen. Die Kläger habe jedoch die Umstellung von einer freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung auf eine Pflichtversicherung zum 01.04.2002 der Beklagten nicht mitgeteilt.

Jedoch fehle es an einer groben Fahrlässigkeit der Klägerin im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X. Grob fahrlässig handele nach der Legaldefinition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, 2. Halbsatz SGB X, wer die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletze. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletze, wer schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstelle und daher nicht beachtee, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsss (st. Rspr. des BSG, vgl. nur Urteil vom 11.06.1987, BSGE 62, 32, 35 m.w.N.). Hierbei sei ein subjektiver Fahrlässigkeitsmaßstab zugrundezulegen, d.h. die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit und das Einsichtsvermögen des Betroffenen seien zu berücksichtigen (vgl. nur BSG, Urteil vom 08.02.2001, B 11 AL 21/00 R, SozR 3-1300 § 45 Nr.45 m.w.N.).

Hier sei es zwar so gewesen, daß die Klägerin auf ihre Pflicht zur Mitteilung von Änderungen im Krankenversicherungsverhältnis im Bescheid vom 10.12.1993 hingewiesen worden war.

Dennoch habe sich ihr nach Auffassung der Kammer der Wegfall der freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung und die daraus resultierende Pflicht zur Anzeige dieser Änderung nicht schon anhand einfachster, ganz nahe liegender Überlegungen erschließen müssen.

Maßgeblich hierfür sei, daß die Klägerin zum Zeitpunkt der Umstellung ihrer Kranken- und Pflegeversicherung (01.04.2002) bereits ein Lebensalter von 78 Jahren erreicht hatte, was bezüglich der Anforderungen, die an eine Urteils- und Kritikfähigkeit zu stellen seien, zu berücksichtigen sei. Zwar habe die Kammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung von der Klägerin trotz ihres fortgeschrittenen Lebensalters den Eindruck gewonnen, daß sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sei und erst Recht müsse dies dann zum Zeitpunkt 01.04.2002 gelten, weil sie hier noch jünger war. Jedoch sei im vorliegenden Fall durchaus ein komplexer Sachverhalt zu beurteilen gewesen, weil den Beiträgen zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung neben der Rente der Klägerin auch Versorgungsbezüge und die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zugrundelagen und Letztere mit der Umstellung ohnehin wegfielen.

Der Klägerin habe es sich deshalb jedenfalls nicht anhand der finanziellen Verhältnisse auf ihrem Konto aufdrängen müssen, daß sich eine anzuzeigende Änderung ergeben hatte. Denn angesichts monatlicher Einkünfte in einer Größenordnung von seinerzeit rund 2.500,- € sei die finanzielle Besserstellung (Wegfall des Teils der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung aus der Rente bei gleichbleibender Zahlung der Beitragszuschüsse) neben der ohnehin gegeben Besserstellung (durch den Wegfall der Verbeitragung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung) nicht so wesentlich ins Gewicht gefallen, daß sie gleichsam ins Auge hätte springen müssen.

Etwas anderes ergebe sich entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht aus dem Aufklärungsschreiben der C. E. vom 25.02.2002. Denn dieses Schreiben enthalte eine Vielzahl von verschiedenen Informationen, die sämtlich auf den Fall der Klägerin zutreffen. So weise dieses Schreiben zunächst darauf hin, daß Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung aus der Rente, aus Versorgungsbezügen und aus Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu zahlen seien. Weiter werde in diesem Schreiben mitgeteilt, daß zur Beitragserhebung aus Versorgungsbezügen ggf. noch gesonderte Hinweise erfolgten würden. Schließlich werde darauf hingewiesen, daß bei einer Pflichtversicherung die Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung nicht verbeitragt würden.

Daß die Klägerin bei diesem komplexen Sachverhalt und angesichts der Fülle der im Schreiben vom 25.02.2002 enthaltenen Informationen „den Überblick verloren“ habe, erscheine nachvollziehbar. Daß die Klägerin nach alldem geglaubt habe, es sei angesichts der finanziellen Besserstellung von rund 251,- € pro Monat „alles in Ordnung“ und sich nicht gewundert habe, daß sich der Zahlbetrag der Rente nicht verändert habe, mag den Vorwurf einfacher Fahrlässigkeit begründen. Eine besondere Nachlässigkeit im Sinne grober Fahrlässigkeit indessen sei hier nicht gegeben.

Weiter lägen auch die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X nicht vor. Diese Vorschrift setze voraus, daß der Betroffene wußte oder nicht wußte, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe, daß der sich aus dem Gesetz ergebende Anspruch weggefallen sei.

Trotz des unterschiedlichen Wortlauts gegenüber § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr.2 SGB X sei hiermit grobe Fahrlässigkeit gemeint, so daß auf die Legaldefinition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X zurückgegriffen werden könne (BSG, Urteil vom 25.01.1994 – 7 RAr 14/93 = BSGE 74, 20, 24). Jedoch beziehe sich die grobe Fahrlässigkeit im Gegensatz zu § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X auf den Wegfall des Anspruchs, vorausgesetzt werde also eine Rechtskenntnis des Betroffenen (BSG, Urteil vom 24.04.1997 – RAr 89/96 = juris) und eine fallbezogene Subsumtion, jedenfalls in Gestalt einer Parallewertung in der Laiensphäre. Grobe Fahrlässigkeit setze in diesen Fällen voraus, daß der Wegfall des Anspruchs für den Begünstigten augenfällig sei. Auch hierbei sei ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab zugrundezulegen, das Maß der Fahrlässigkeit sei nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen (BSG, Urteil vom 05.09.2006 – B 7a AL 14/05 R = BSGE 97, 73, 80). Ein derart qualifizierter Sorgfaltsverstoß, der gegenüber § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X erhöhte Anforderungen aufweise, liege in der Person der zum Zeitpunkt der Umstellung 78jährigen Klägerin erst Recht nicht vor.

Seien die angefochtenen Bescheide nach alldem aufzuheben, lägen die Voraussetzungen des § 50 Abs. 1 SGB X für eine Erstattung der überzahlten Beträge in Höhe von 2.051,01 € nicht vor.