Das Landesarbeitsgericht Hamm befand in seinem Urteil vom 12.05.2011 (8 Sa 1825/10), daß der Diebstahl einer Tafel Schokolade durch eine Lageristen im Lebensmitteleinzelhandel, welche wegen bevorstehender Überschreitung des Mindesthaltbarkeitsdatums bereits ausgesondert und zur Abgabe für soziale Zwecke bestimmt gewesen sei unter Einbeziehung der zu erfolgenden Interessenabwägung bei langjähriger beanstandungsfreier Tätigkeit eine außerordentliche Kündigung nicht begründe und damit zur Unwirksamkeit der Kündigung führe.

Der im Jahre 1952 geborene, mit einem GdB von 70 als Schwerbehinderter anerkannte, verheiratete und gegenüber zwei Kindern unterhaltspflichtige Kläger war seit dem 19.06.1975 im Betrieb der beklagten Handelsgesellschaft als Lagerist im Lager mit einem monatlichen Bruttoentgelt von 1.900,– € bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden beschäftigt gewesen. Die Beklagte beschäftigte in ihrem Betrieb mehr als 10 Arbeitnehmer. Mit Schreiben vom 18.03.2010 sprach die Beklagte gegenüber dem Kläger eine fristlose Kündigung aus mit der Begründung, der Kläger habe am 24.02.2010 entgegen dem umfassenden Verbot, Ware aus dem Lager mitzunehmen oder zu verzehren, eine Tafel Schokolade, welche sich wegen bevorstehenden Ablaufs des Mindesthaltbarkeitsdatums in einem Retouren-Container befunden habe, an sich genommen und in seiner Arbeitsjacke versteckt,. Hierbei sei er beobachtet und zur Rede gestellt worden, worauf er erklärt habe, er habe die Schokolade nicht stehlen, sondern verzehren wollen.

Demgegenüber trug der Kläger vor, er habe die Tafel Schokolade in einem Gang des Lagers auf dem Boden gefunden und an sich genommen, um sie nach Erledigung seiner aktuellen Arbeit in den Container zu legen. Abweichend vom Vortrag der Arbeitgeberin habe er nicht erklärt, die Schokolade verzehren zu wollen, vielmehr habe er dem betreffenden Gespräch mit Rücksicht auf seine starke Schwerhörigkeit nicht folgen können.

Das Arbeitsgericht hatte der Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers stattgegeben und ausgeführt, ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB, welcher der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar mache, liege auch auf der Grundlage des als wahr unterstellten Beklagtenvortrages nicht vor. Ausgehend vom Vortrag der Beklagten liege zwar in der Entnahme der Tafel Schokolade aus dem Retouren-Container ein Eigentumsdelikt zu Lasten der Beklagten, welches grundsätzlich geeignet sei, den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung zu rechtfertigen. Auch wenn nicht verkannt werde, daß die Beklagte in besonderer Weise auf die Ehrlichkeit ihrer Mitarbeiter angewiesen sei, da sie mit Waren des täglichen Bedarfs handele, könne nicht unberücksichtigt bleiben, daß der wirtschaftliche Schaden im vorliegenden Fall nicht ins Gewicht falle. Berücksichtige man weiter die sozialen Folgen der Kündigung für den Kläger und seine ca. 36-jährige Betriebszugehörigkeit ohne dokumentierte Beanstandungen, müsse davon ausgegangen werden, daß hier der Ausspruch einer Abmahnung genügt haben würde, um dem Kläger die Bedeutung eines derartigen Fehlverhaltens vor Augen zu führen und ihm die Chance einzuräumen, das beeinträchtigte Vertrauen wieder herzustellen. In Anbetracht der Tatsache, daß der Kläger bei seiner Arbeit nicht damit rechnen könne, völlig unbeobachtet zu sein, könne von einer jederzeitigen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden. Dementsprechend erscheine der Kammer die Weiterbeschäftigung des Klägers, verbunden mit einer stichprobenartigen Kontrolle seines Verhaltens, als möglich und zumutbar.

Dier hiergegen eingelegte Berufung der Arbeitgeberin wies das Landesarbeitsgericht als unbegründet zurück.

Allein der Umstand, daß es sich bei der entwendeten Tafel Schokolade nicht mehr um verkaufsfähige Ware gehandelt habe und aus diesem Grund mit der Entwendung der Schokolade ein wirtschaftlicher Schaden für die Beklagte nicht verbunden gewesen sei, ändere allerdings nichts daran, daß auch ein derartiger Diebstahl „an sich“ geeignet sei, die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Unstreitig sei die Tafel Schokolade nicht zur Vernichtung bestimmt gewesen, sondern habe einem karitativen Zweck zugeführt werden sollen. Daß ein Arbeitnehmer nicht berechtigt sei, für soziale Zwecke bereitgestellte Lebensmittel für sich zu verwenden, ein diesbezüglicher Diebstahl damit einen schweren Verstoß gegen die Vertragspflichten darstelle und die vertragliche Vertrauensbeziehung maßgeblich beeinträchtige, könne nicht zweifelhaft sein.

Andererseits kenne das Gesetz keine „absoluten Kündigungsgründe“, weswegen es auch im Falle eines Diebstahls einer Interessenabwägung bedürfe, welche die jeweiligen Besonderheiten des Falles berücksichtige, wenn die Frage zu beantworten sei, ob der Kündigungssachverhalt, welcher „an sich“ zur Kündigung geeignet ist, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar mache. Da der Ausspruch einer Kündigung keine Sanktion für begangenes Fehlverhalten darstelle, komme es für die sachliche Berechtigung der Kündigung maßgeblich darauf an, inwiefern durch das Fehlverhalten des Arbeitnehmers das Vertrauen in die künftige Vertragstreue derartig erschüttert oder endgültig zerstört sei, daß eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses – nach der gesetzlichen Regelung für die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist und bei ordentlich nicht mehr kündbaren Arbeitnehmern für die Dauer der künftigen Vertragsbindung – als unzumutbar erscheine.

Vorliegend gehe es um die Beurteilung eines einmaligen Fehlverhaltens eines Arbeitnehmers, der sich seit ca. 36 Jahren vertragstreu bzw. im Hinblick auf die erforderliche Vertrauensbeziehung beanstandungsfrei verhalten habe. Richtig sei zwar, daß auch bei länger beschäftigten Arbeitnehmern nicht jedwedes erstmalige Fehlverhalten als unbedeutend, abmahnfähig oder minderschwerer Kündigungsgrund angesehen werden könne, weil ansonsten – wie die Beklagte zu Recht einwende – in derartigen Fällen das Mittel einer fristlosen Kündigung von vornherein ausgeschlossen wäre. Wie die Beklagte indessen selbst betone, komme es entscheidend darauf an, ob bereits die erst- und einmalige Pflichtverletzung des Arbeitnehmers die erforderliche Vertrauensbeziehung definitiv zerstöre.

Das gesteigerte Interesse der Beklagten, als Lebensmittelhandelsunternehmen vor Mitarbeiterdiebstählen konsequent geschützt zu werden, betreffe jedenfalls vorrangig den zum Verkauf bestimmten Warenbestand. Ein hierauf bezogener Diebstahl eines Lagerarbeiters werde damit in aller Regel zur endgültigen Zerstörung der Vertrauensbeziehung und zur Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses führen. Das auf die verkaufsfähige Ware bezogene Integritätsinteresse der Beklagten sei indessen durch das Verhalten des Klägers nicht berührt. Der Kläger habe nicht etwa aus dem zum Verkauf bestimmten Warenbestand eine Tafel Schokolade entwendet, deren Haltbarkeitsdatum zufällig und unerkannt bereits abgelaufen gewesen sei, was den Unrechtsgehalt des Diebstahls kaum abschwächen könnte, vielmehr habe der Kläger das Eigentum der Beklagten konkret in Bezug auf erkennbar nicht zum Verkauf bestimmte Ware verletzt, indem er die Tafel Schokolade aus dem Retouren-Container entnommen habe.

Auch wenn der Beklagten zuzugestehen sei, daß eine Kontrolle der im Lager beschäftigten Arbeitnehmer praktisch unmöglich oder jedenfalls mit vertretbarem Aufwand nicht durchführbar sei, bleibe zu beachten, daß der festgestellte Pflichtenverstoß des Klägers sich auf einen Diebstahl aus dem Retouren-Container beschränkt habe, ohne daß Anhaltspunkte dafür vorliegen würden, daß der Kläger ebenso gut verkaufsfähige Ware aus dem Lagerbestand entwenden könnte. Damit bleibe festzuhalten, daß das zu beurteilende Unrecht nicht mit einem typischen Diebstahl verkaufsfähiger Ware oder einem „Griff in die Kasse“ gleichgesetzt werden könne. Abweichendes könne auch nicht aus der „Heimlichkeit“ der Diebstahlshandlung hergeleitet werden. Daß der Kläger die Tafel Schokolade nach Entnahme aus dem Container nicht offen herumgetragen, sondern in die Jackentasche gesteckt habe, erkläre sich ohne weiteres aus dem regulären Arbeitsablauf, nicht hingegen lasse sich hieraus ableiten, der Kläger habe gerade hierdurch seine fehlende Bereitschaft zur Beachtung der betrieblichen Ordnung und des Arbeitgebereigentums zu erkennen gegeben.

Auf dieser Grundlage könne aber eine umfassende Zerstörung des Vertrauens in die Redlichkeit des Klägers nicht angenommen werden. Die berechtigte Sorge der Beklagten um den Schutz des werthaltigen Lagerbestandes erfordere es nicht, ohne Rücksicht auf die dargestellten Besonderheiten des Falles und die langjährige beanstandungsfreie Tätigkeit des Klägers das bestehende Arbeitsverhältnis fristlos zu beenden.

Auch soweit die Beklagte auf den Gesichtspunkt der betrieblichen Ordnung verweise und – zweifellos zu Recht – jede Wegnahme oder jeden Verzehr von Waren aus dem Bestand der Beklagten verbiete, um Mißbräuche oder Mißverständnisse auszuschließen, führe dies nicht zu einer von der Einzelfallbeurteilung gelösten Annahme der Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses. Der Beklagten sei zuzugestehen, daß die erforderliche Betriebsdisziplin nur durch konsequente Anwendung der bestehenden Ordnungsregeln gewahrt werden könne. Hieraus folge jedoch nicht, daß zur Wahrung der betrieblichen Ordnung stets und ausnahmslos allein eine fristlose Kündigung in Betracht komme. Vielmehr sei es gegebenenfalls Sache des Arbeitgebers, gegenüber der Belegschaft unter Hinweis auf die Besonderheiten des Einzelfalls dem Eindruck entgegen zu treten, im Absehen von einer Kündigung liege eine entsprechende Billigung oder Abkehr von dem Grundsatz, daß auf einen Warendiebstahl mit einer fristlosen Kündigung reagiert werde. Auch der Hinweis auf die Einhaltung der betrieblichen Ordnung ändere nichts an der Notwendigkeit einer Einzelfallbeurteilung unter Berücksichtigung der langjährigen beanstandungsfreien Tätigkeit des Klägers und der bislang gezeigten Vertragstreue.

Berücksichtige man nach alledem die dargestellten Besonderheiten des Falles, den fehlenden eigenen wirtschaftlichen Schaden der Beklagten und die sozialen Folgen für den Kläger, welche sich aus dem Verlust des Arbeitsplatzes ergeben würden, so könne dem Standpunkt der Beklagten zur Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht beigetreten werden.