Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 19.04.2012 (7 Sa 1204/11):

Will der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung mit der Begründung verweigern, der Arbeitnehmer habe die Arbeitsunfähigkeit schuldhaft im Sinne des Gesetzes herbeigeführt, so trifft ihn für die Tatsachen, aus denen sich der Ausschließungsgrund ergeben soll, die Darlegungs- und Beweislast (BAG vom 23.11.1971, AP Nr. 9 zu § 1 LohnFG; seitdem std. Rspr.; ferner: ErfK/Dörner,§ 3 EFZG Rdnr. 32).  Zu den Entscheidungsgründen:

Die Darlegungen der Beklagten reichen im vorliegenden Fall nicht aus, um einen Fall selbst verschuldeter Arbeitsunfähigkeit im Sinne von § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG anzunehmen.

Die Beklagte stützt ihre Rechtsauffassung auf folgende Kernbehauptungen: Die Klägerin habe am Unfalltage wie am Vortage dieselben Stoffturnschuhe mit glatter Sohle getragen; am Vortage hätten aus gegebenem Anlaß zwei Vorgesetzte unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeiten die Klägerin darauf hingewiesen, daß ihre Schuhe nicht rutschfest und daher ungeeignet seien; es könne ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß es der Klägerin möglich gewesen wäre, am Unfalltag mit anderen, besser geeigneten Schuhen zur Arbeit zu erscheinen. Schließlich behauptet die Beklagte, der frisch aufgewischte Bereich des Restaurantfußbodens, in welchem sich der Unfall ereignet hat, sei durch ein gelbes Warnschild gekennzeichnet gewesen.

Die Klägerin hat ihrerseits jede dieser Kernbehauptungen der Beklagten bestritten. Die Klägerin behauptet, sie habe schwarze Lederschuhe mit ausreichend rutschfester Sohle getragen; sie sei am Vortag des Unfalls von keinem ihrer Vorgesetzten auf ihre Schuhe und deren nicht ausreichende Rutschfestigkeit angesprochen worden; sie hätte auch zwischen der Schicht vom Vortag und der Schicht am Unfalltag zeitlich keine Möglichkeit gehabt, sich andere Schuhe zu besorgen. Schließlich bestreitet die Klägerin auch, daß der noch feuchte Fußbodenbereich durch ein Warnschild gekennzeichnet gewesen sei.

Weder das Arbeitsgericht noch das Berufungsgericht haben sich ein eigenes Bild von den Schuhen machen können, die die Klägerin zum Unfallzeitpunkt getragen hat. Nach Aussage der Klägerin existieren diese Schuhe nicht mehr.

Einer Beweisaufnahme zu den streitigen Kernbehauptungen der Parteien bedurfte es nicht. Auch wenn man nämlich die streitigen Behauptungen der Beklagten zu ihren Gunsten als wahr unterstellt, führt dies nicht zu der von der Beklagten erstrebten Rechtsfolge; auch dann kann nämlich aufgrund der Umstände des vorliegenden Einzelfalls noch nicht von einem eigenen Verschulden der Kläger an dem zur Arbeitsunfähigkeit führenden Unfall vom 22.12.2010 ausgegangen werden, das ein Ausmaß erreicht, welches für den Ausschluß des Entgeltfortzahlungsanspruchs nach § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG genügt.

Die Beklagte verkennt im Rahmen ihrer Argumentation den Verschuldensmaßstab, der bei § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG für den Ausschluß des Entgeltfortzahlungsanspruchs nach ganz herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur vorauszusetzen ist. Das in § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG erwähnte Verschulden des Arbeitnehmers entspricht nicht dem in § 276 BGB definierten Begriff über die Verantwortlichkeit des Schuldners. Im Entgeltfortzahlungsrecht wird vielmehr nur ein solches Verhalten als anspruchsausschließend bewertet, bei welchem es sich um einen groben Verstoß gegen das eigene Interesse eines verständigen Menschen handelt (BAG vom 11.03.1987, AP Nr. 71 zu § 1 LohnFG; BAG vom 30.03.1988,AP-Nr. 77 zu § 1 LohnFG). Ein im allgemeinen Sprachgebrauch als leichtsinnig bezeichnetes Verhalten erfüllt den Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 1S. 1 EFZG daher noch nicht (ErfK/Dörner, § 3 EFZG Rdnr. 23).

Das bedeutet: Erforderlich ist vielmehr ein besonders leichtfertiges oder gar vorsätzliches Verhalten des Arbeitnehmers, welches dann auch darin bestehen kann, dass der Arbeitnehmer in grober Weise seiner Sicherheit dienende Anordnungen des Arbeitgebers nicht beachtet (ErfK/Dörner, § 3 EFZG, Rdnr. 23 u. 26).

Selbst wenn man die Behauptungen der Beklagten zu den Äußerungen der Vorgesetzten über die Rutschfestigkeit der Schuhe der Klägerin als wahr unterstellt, kann nicht festgestellt werden, daß die Klägerin in dem eben genannten Sinne in grober Weise ihrer Sicherheit dienende Anordnungen mißachtet hätte, als sie am Unfalltage mit denselben Schuhen am Arbeitsplatz erschien wie am Vortage.

Die Beklagte behauptet bekanntlich, die Klägerin habe Stoffturnschuhe mit glatter Sohle getragen. Hierbei handelt es sich nicht etwa per se um ein ungewöhnliches und schon auf den ersten Blick für den Einsatz bei der Arbeit oder im sonstigen Alltag ungeeignetes Schuhwerk, wiez. B. Stöckelschuhe oder Vergleichbares. Vielmehr handelt es sich bei solchen Stoffturnschuhen um ein insbesondere in der jüngeren Generation sehr weit verbreitetes Schuhmaterial, das gerade im Alltag massenhaft getragen wird.

Bereits das Arbeitsgericht hat sinngemäß darauf hingewiesen, daß jeder Beurteilung der „Rutschfestigkeit“ von Turnschuhsohlen auch ein nicht unerhebliches subjektives Moment innewohnt. Die Beklagte nimmt für sich in Anspruch, daß die Beurteilung der Rutschfestigkeit durch die beiden Vorgesetzten richtig gewesen sein müsse, weil sie durch das Unfallereignis gerade bestätigt wurde. Es kann jedoch nicht auf den Kenntnisstand abgestellt werden, der unter Einbeziehung des späteren Unfallgeschehens erwachsen sein mag, sondern es muß auf den Zeitpunkt vor dem Unfall abgestellt werden, als die Klägerin ihre Entscheidung traf, trotz der behaupteten Einwände der Vorgesetzten nochmals mit denselben Schuhen zur Arbeit zu erscheinen. Selbst wenn man dieses Verhalten dann in Anbetracht der Einwände der Vorgesetzten dennoch als leichtsinnig beurteilen wollte, läge hierin, wie bereits ausgeführt, noch kein für den Ausschlusstatbestand des§ 3 Abs. 1 S. 1 EFZG ausreichendes Verschulden vor und insbesondere auch noch kein grober Verstoß gegen arbeitgeberseitige Anordnungen.

Diese Einschätzung wird letztlich auch durch das eigene Verhalten der Beklagten bzw. der für sie tätig werdenden Vorgesetzten bestätigt:

So behauptet die Beklagte, der Zeuge S habe die Klägerin bereits um 14:15 Uhr des Vortages auf die Ungeeignetheit ihrer Schuhe hingewiesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin am Vortage noch mehr als fünf Stunden zu arbeiten. Hätte der Zeuge S den Eindruck gehabt, daß das Tragen derartiger Schuhe am Arbeitsplatz so exorbitant leichtsinnig sei, wie die Beklagte nunmehr glauben machen will, so hätte er die Anordnung getroffen und auch treffen müssen, daß die Klägerin sofort ihre Schuhe zu wechseln habe. Ebenso hätte er in diesem Fall am Folgetag sofort eingegriffen und auch eingreifen müssen, als die Klägerin wiederum mit denselben Schuhen zur Arbeit erschien. Daß er beides nicht getan hat, spricht dafür, daß er das Verhalten der Klägerin zwar für verbesserungswürdig, aber keinesfalls so exorbitant leichtfertig gehalten hat, wie die Beklagte es nunmehr darstellt. Es spricht ferner auch dafür, dass der Hinweis auf die mangelnde Geeignetheit des Schuhwerks noch nicht den Charakter einer Anordnung im Sinne einer Ausübung des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts hatte.

Vor allem aber: Der Gefahrenbereich des feucht aufgewischten Fußbodens, in welchem sich der Unfall der Klägerin ereignete, befand sich in dem auch den Gästen des Restaurants zugänglichen Bereich. Da, wie bereits ausgeführt, Schuhe derjenigen Art, wie sie die Klägerin der Beklagten zufolge am Unfalltag getragen haben soll, unter jüngeren Leuten im Alltag weit verbreitet sind, mußte die Beklagte jederzeit damit rechnen, daß eine Vielzahl ihrer Gäste das Restaurant mit entsprechendem Schuhwerk betreten werde. Gleichwohl haben die Verantwortlichen der Beklagten nicht verhindert, daß die Restaurantbesucher den Gefahrenbereich betreten konnten, sondern sich allenfalls auf das Aufstellen eines Warnschildes beschränkt. Wären die Gefahren, die aus dem Betreten des feuchten Restaurantbodens mit derartigen Schuhen entstehen können, tatsächlich so naheliegend und so groß, wie die Beklagte es der Klägerin durch ihren Vorwurf grob leichtfertigen Fehlverhaltens unterstellt, hätte die Beklagte den Gefahrenbereich für ihre Kunden unbedingt unzugänglich halten müssen. Daß sie dies nicht getan hat, spricht dafür, dass ihre Verantwortlichen die Gefahren ebenfalls als nicht so groß eingeschätzt haben, wie dies der Vorwurf eines besonders leichtsinnigen Fehlverhaltens gegenüber der Klägerin voraussetzt.

Selbst wenn man somit zugunsten der Beklagten unterstellt, daß die Klägerin mit der Wahl ihres Schuhwerks am Unfalltag in Anbetracht etwaiger vorheriger Hinweise bzw. Anweisungen ihrer Vorgesetzten „leichtsinnig“ gehandelt hat, so erscheint ihr Verhalten nach Lage der Dinge dennoch keineswegs als so grob schuldhaft, daß ein Ausschluss des Entgeltfortzahlungsanspruchs gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG in Betracht käme.