Das Landesarbeitsgericht Hamm befand in seinem Urteil vom 30.06.2010 (2 Sa 49/10), daß die Frage nach der Schwerbehinderung in einem bestehenden Arbeitsverhältnis nicht generell unzulässig sei.
Diene sie ausschließlich dazu, den Arbeitgeber im Hinblick auf bevorstehende Kündigungen über das Eingreifen von Schutzvorschriften zugunsten des schwerbehinderten Arbeitnehmers zu informieren (hier Zustimmung des Integrationsamtes), sei es dem Arbeitnehmer wegen widersprüchlichen Verhaltens verwehrt, sich bei einer im übrigen wirksam ausgesprochenen Kündigung auf die fehlende Zustimmung des Integrationsamtes zu berufen, wenn er die zuvor an ihn gestellte Frage wissentlich falsch beantwortet und das Integrationsamt einer nachfolgenden Kündigung des Arbeitsverhältnisses zugestimmt habe.
In dem Verfahren stritten die Parteien um die Wirksamkeit der von dem Beklagten auf der Grundlage eines Interessenausgleichs mit Namensliste ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses vom 26.05.2009 zum 30.06.2009. Streitig war insbesondere, ob die Kündigung gemäß § 85 SGB IX unwirksam sei, weil der Beklagte die vorherige Zustimmung des Integrationsamtes nicht eingeholt hatte.
Der am 08.07.1956 geborene, verheiratete Kläger war bei der G1 S1 GmbH seit dem 01.11.2007 aufgrund eines bis zum 31.10.2009 befristeten Arbeitsverhältnis als Maschinenschlosser gegen eine Vergütung von 2.300,– brutto monatlich tätig. Der Kläger war als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 60 anerkannt.
Über das Vermögen der G1 S1 GmbH war am 01.03.2009 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt worden. Dieser schloß am 20.05.2009 mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, auf der sich auch der Name des Klägers befand. Der Interessenausgleich verhielt sich über die Reduzierung der Mitarbeiteranzahl von 112 auf 91 Mitarbeiter.
Um Fehler bei der sozialen Auswahl zu vermeiden, hatte der Beklagte allen Mitarbeitern während des Insolvenzeröffnungsverfahrens einen Fragebogen zur Vervollständigung bzw. Überprüfung der vorliegenden Daten vorgelegt. Danach wurde der Familienstand, die Anzahl der unterhaltspflichtigen Kinder und die Schwerbehinderung abgefragt. Der Kläger hatte bei der Frage nach der Schwerbehinderung das Feld „nein“ angekreuzt.
Nach Zuleitung einer Gesamtpersonalliste erörterten der Beklagte und der Betriebsrat am 15.05. und 20.05.2009 die Anzahl der noch für Mai 2009 geplanten Kündigungen. Dabei wurden die Vergleichsgruppen, die sozialen Daten und die Kündigungsgründe erörtert. Nach Darstellung des Beklagten war der Betriebsratsvorsitzende darauf hingewiesen worden, daß mit den Verhandlungen zum Interessenausgleich zugleich das Anhörungsverfahren gemäß § 102 BetrVG verbunden werden solle. Dazu hieß es in dem Interessenausgleich vom 20.05.2009 unter III.:
„Bei den Verhandlungen über den Interessenausgleich und der Erstellung der Namensliste lagen dem Betriebsrat die Sozialdaten i. S. des § 1 Abs. 3 KSchG sämtlicher Arbeitnehmer vor. Mit der Erstellung der Namensliste ist gleichzeitig das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG zur Kündigung der in der Namensliste genannten Arbeitnehmer eingeleitet worden. Die Erörterungen, die zur Erstellung der Namensliste geführt haben, sind gleichzeitig die förmlichen Informationen des Betriebsrates über die Kündigungsgründe gem. § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG. Dies wurde dem Betriebsrat vor Beginn der Verhandlungen über den Interessenausgleich mitgeteilt.“
Der Betriebsrat hatte Gelegenheit, über die beabsichtigten Kündigungen zu beraten.
Der Betriebsrat gabt folgende abschließende Stellungnahme ab:
„Den Kündigungen stimmt der Betriebsrat zu. Der Betriebsrat betrachtet das Anhörungsverfahren damit als abgeschlossen.“
Der Kläger hatte erstmals in seiner beim Arbeitsgericht am 09.06.2009 eingegangenen Klage auf seine Schwerbehinderung hingewiesen und geltend gemacht, die Kündigung sei allein deswegen unwirksam, weil das Integrationsamt die erforderliche Zustimmung zur Kündigung nicht erteilt habe. Er bestritt außerdem die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats.
Der Beklagte holte nach Kenntnis von der Schwerbehinderung des Klägers die erforderliche Zustimmung des Integrationsamtes ein und sprach eine weitere vorsorgliche Kündigung mit Schreiben vom 20.08.2009 zum 30.09.2009 aus.
Das Arbeitsgericht stellte durch Urteil vom 26.11.2009 fest, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten vom 26.05.2009 nicht aufgelöst worden sei. Zur Begründung führte es aus, die Kündigung sei gemäß § 134 BGB, 85 SGB IX unwirksam, weil sie ohne Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochen worden sei. Dem Kläger sei es trotz Falschbeantwortung des Fragebogens nach Treu und Glauben nicht verwehrt, sich auf den Sonderkündigungsschutz als Schwerbehinderter zu berufen. Die Frage nach der Schwerbehinderung sei grundsätzlich unzulässig. In einem bestehenden Arbeitsverhältnis sei der Arbeitnehmer nur zur Auskunft verpflichtet, wenn ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers an der Beantwortung der Frage bestehe. Im vorliegenden Fall sei ein besonderes berechtigtes Interesse des Beklagten an der zutreffenden Beantwortung der Frage nicht erkennbar. Sie greife in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers ein und betreffe ein Diskriminierungsmerkmal der §§ 1, 2 AGG. Die Frage stehe in keinem Zusammenhang mit der vom Kläger zu erbringenden Arbeitsleistung.
Das sah das Landesarbeitsgericht anders und wies in dem Berufungsverfahren des Insolvenzverwalters die Klage ab.
Die vom Kläger angegriffene Kündigung des Beklagten vom 26.05.2009 habe zwar an sich gemäß § 85 SGB IX der Zustimmung des Integrationsamtes bedurft. Eine ohne die erforderliche Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochene Kündigung sei daher unwirksam. Es handele sich um eine öffentlich-rechtliche Wirksamkeitsvoraussetzung, die die Ausübung des Kündigungsrechts durch den Arbeitgeber einer vorherigen staatlichen Kontrolle unterwerfe. Der Arbeitnehmer könne sich auf den Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen auch dann berufen, wenn der Arbeitgeber von seiner Schwerbehinderung nichts wisse. Er müsse dann aber die Unwirksamkeit der Kündigung innerhalb der Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG gerichtlich geltend machen (BAG 12.01.2006, 2 AZR 539/05; BAG 23.02.2010, 2 AZR 659/08).
Auf den besonderen Kündigungsschutz gemäß § 85 SGB IX könne sich der Kläger vorliegend aber nicht berufen, weil er die zuvor an ihn gerichtete Frage nach seiner Schwerbehinderteneigenschaft wahrheitswidrig verneint habe. Aus dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens sei es ihm gemäß § 242 BGB verwehrt, sich auf die fehlende Zustimmung des Integrationsamtes zu berufen.
Die Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft sei in einem bestehenden Arbeitsverhältnis nicht grundsätzlich unzulässig. Sie falle nicht unter das Benachteiligungsverbot gemäß §§ 1, 7 AGG, wenn sie dazu diene, dem Arbeitgeber die Prüfung über das Eingreifen kündigungsrechtlicher Schutzbestimmungen zugunsten des schwerbehinderten Menschen zu ermöglichen. Es stelle keine Benachteiligung wegen der Behinderung dar, wenn der Arbeitgeber nach der Schwerbehinderteneigenschaft frage, um vor Ausspruch einer geplanten Kündigung gegebenenfalls die Zustimmung des Integrationsamtes gemäß § 85 SGB IX einzuholen.
Nach den hier vorliegenden Umständen habe die Frage allein dem Zweck gedient, dem Beklagten zu ermöglichen, seinen Verpflichtungen gemäß den § 85 ff SGB IX nachzukommen.
Wie § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG zeige, sei es dem Arbeitgeber nicht verwehrt, im Falle von betriebsbedingten Kündigungen schwerbehinderte Arbeitnehmer in den Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer einzubeziehen. Die dort genannten Kriterien der sozialen Auswahl, zu denen auch die Schwerbehinderung gehöre, könnten in dem Abwägungsprozeß nur berücksichtigt werden, wenn sie bekannt seien. Dies gelte insbesondere bei einem Interessenausgleich mit Namensliste gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO, weil in diesem Fall den Betriebsparteien die Wahrnehmung des individuellen Kündigungsschutzes obliege (vgl. BAG vom 06.09.2007, 2 AZR 715/06).
Sei die Frage nach der Schwerbehinderung daher sowohl im Hinblick auf § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG als auch zur Klärung der Notwendigkeit einer vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes gemäß § 85 SGB IX legitim, könnte der Einwand des widersprüchlichen Verhaltens nur ausgeräumt werden, wenn der Arbeitnehmer besondere, nachvollziehbare Gründe gehabt hätte, die ihm gestellte Frage nicht wahrheitsgemäß zu beantworten. Der Kläger habe aber solche Gründe nicht genannt und auch nicht dargelegt, warum ihm die wahrheitsgemäße Beantwortung der Frage nicht zumutbar gewesen sei. Er habe durch seinen Prozeßbevollmächtigten in der Berufungsverhandlung vortragen lassen, daß er nicht angeben könne, warum er die Frage mit „Nein“ beantwortet habe. Allerdings habe der schwerbehinderte Mensch auch die Freiheit, auf die Inanspruchnahme des Schwerbehindertenschutzrechts zu verzichten. Im vorliegenden Fall wolle der Kläger seinen Schwerbehindertenschutz aber gerade nicht preisgeben, sondern mache in der Klageschrift ausdrücklich die fehlende Zustimmung des Integrationsamtes als Unwirksamkeitsgrund geltend. Damit setze er sich in Widerspruch zu seinem Verhalten bei der Ausfüllung des Fragebogens.
Es sei weiterhin zu berücksichtigen, daß das Integrationsamt der nachfolgenden Kündigung des Beklagten vom 20.08.2009 zugestimmt habe.
Es sei daher insgesamt ein berechtigtes Interesse des Beklagten an der wahrheitsgemäßen Beantwortung der Frage anzuerkennen. Eine Benachteiligung des Klägers sei damit nicht verbunden. Im Gegenteil: Andernfalls hätte es der Kläger in der Hand, die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinauszuschieben und gemäß §§ 615 BGB, 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO Vergütungsansprüche zu Lasten der Masse zu begründen. Es sei aber gerade nicht Sinn und Zweck des Sonderkündigungsschutzes, für schwerbehinderte Menschen eine Verlängerung der Kündigungsfrist zu erreichen.
Die Kündigung sei in der Sache selbst gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG aus betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Die Anhörung des Betriebsrats sei ferner nicht zu beanstanden.
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